Russka
verlor schließlich auch ihre letzten Fürsprecher, als sie die Arbeit des liberalen Adels in den zemstvos einengte. Überall gab es Polizeispitzel.
Einen Lichtblick bildeten die Fortschritte, die unter dem brillanten Finanzminister Sergej Witte bei der russischen Eisenbahn und in der Schwerindustrie erzielt worden waren. Die Transsibirische Eisenbahn führte nun bis an den Pazifik. Fremdes Kapital, vor allem aus Frankreich, floß ins Land. Doch so wichtig diese Entwicklungen auch sein mochten, dem einfachen Volk bedeuteten sie vorerst wenig, und tatsächlich war in den vergangenen Jahren eine leichte wirtschaftliche Depression eingetreten.
Doch der Grund der sich abzeichnenden Katastrophe war der Krieg. Es war die gleiche Geschichte wie damals, als Rußland auf so verhängnisvolle Weise in den Krimkrieg hineingezogen worden war. Diesmal handelte es sich um den Fernen Osten, Die Transsibirische Eisenbahn veranlaßte Rußland zur Erweiterung seines Einflußbereichs, wobei es die Chinesen einschüchterte und mit den japanischen Interessen in jenem Gebiet in Konflikt geriet. In allzu großem Vertrauen in Heer und Flotte hatte das mächtige Landimperium sich auf einen Krieg mit der kleinen Inselnation eingelassen, und nun war es auf verheerende Weise geschlagen worden.
Im Januar dieses Jahres kam es zum Blutsonntag – dem Funken, der nach der allgemeinen Ansicht die große russische Feuersbrunst entfacht hat. Die von einem ukrainischen Geistlichen angeführte Demonstration, die lediglich die Beseitigung von Mißständen forderte, bahnte sich ungeordnet ihren Weg durch die winterlichen Straßen St. Petersburgs. Das Massaker spielte sich nicht vor dem Winterpalais ab, wie immer behauptet wird; der Zar war jedenfalls an jenem Tag nicht in der Stadt. Aus nicht bekannten Gründen feuerten die Soldaten plötzlich in die Menge, wobei mehrere Menschen am Narva-Stadttor den Tod fanden.
Daraufhin brach die Hölle los. Die liberalen zemstvos protestierten gegen die Ausschreitungen. Streiks brachen aus. In völliger Verkennung der Situation schloß die Regierung die Universitäten, und die Studenten saßen auf der Straße. Jede unzufriedene Gruppe im Reich sah ihre Chance zum Protest. Es gab Aufstände in Finnland, in den baltischen Staaten, in Polen und in Rußland selbst. Bis zum Sommer verzeichneten die Polizeiberichte 492 ernsthafte Ruhestörungen. Die Arbeiter der großen Textilfabriken in Ivanovo, nördlich von Vladimir, befanden sich in Aufruhr. In Zeitschriften und Broschüren erschienen unter dem Pseudonym V. I. Lenin, das bis dahin nur in revolutionären Kreisen bekannt war, revolutionäre Artikel. Im Mai und im Juni kamen noch vernichtendere Nachrichten aus dem Osten: Die gesamte russische Flotte war versenkt worden. Bald darauf brach im Hafen von Odessa am Schwarzen Meer auf dem russischen Panzerkreuzer Potemkin eine Meuterei aus. Was geschah mittlerweile in Russka? Bis zu diesem Morgen war es in der Stadt und in der Fabrik der Suvorins ruhig geblieben. Kurz vor Mittag jedoch kam ein Mann aus der Stadt zurück und berichtete: »Irgend etwas geht in den Webereien vor.« Am Nachmittag hieß es, ein Streik sei ausgebrochen. Dann erzählten drei Mädchen aus dem Dorf, die in der Spinnerei arbeiteten, man habe sie nach Hause geschickt. Aus diesen wenigen Anzeichen schloß der kleine Ivan, daß die Revolution nun auch bis Russka gekommen sei. Doch erst am späten Nachmittag fing sein Onkel Boris an, sich merkwürdig zu verhalten.
Tief in Gedanken versunken betrat Alexander Bobrov an diesem Tag den Marktplatz von Russka. Er war ein hübscher blonder Junge von vierzehn Jahren mit dem ersten Flaum auf der Oberlippe. Sobald er von den Schwierigkeiten erfahren hatte, war er in die Stadt geeilt, aber nicht, ehe er mit seinem Vater bestimmte Worte gewechselt hatte – Worte, die nicht ungesagt bleiben konnten. Sie, Vater und Sohn, waren ein seltsames Paar: Äußerlich waren sie sich sehr ähnlich, in ihrem Innern waren sie verschieden wie Tag und Nacht! Als Nikolaj an diesem Morgen seinen Sohn ansah, dachte er, daß manche Leute schon konservativ auf die Welt kommen. Vor einigen Jahren hatte der traurige Tod von Nikolajs älterem Sohn Alexander zum einzigen Erben gemacht, und der Junge nahm diese Position sehr ernst. Er war religiös und ging gern mit seiner Großmutter Anna zur Kirche; daneben war er außerordentlich stolz auf die alte Verbindung seiner Familie zur Monarchie. Vor allem wollte er unbedingt das Gut übernehmen,
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