Russka
und dies war seit langem ein Grund für Spannungen zwischen Vater und Sohn. Der Besitz in Rjazan war nach und nach verlorengegangen. Nikolaj hatte zahlreiche Angebote für Teile der verbliebenen Wälder und Weiden in Russka gehabt, eines von der Dorfgemeinde und zwei für kleine Parzellen von Boris Romanov. Doch jedesmal hatte er wegen des Einspruchs seiner Mutter Anna und des jungen Alexander abgelehnt. Nun aber konnte er nicht länger durchhalten. Seit der Aufhebung der Leibeigenschaft war weder für ihn noch für die Bauern genügend Land vorhanden, sagte er immer wieder. Es ging ihm damit wie vielen Landbesitzern: Die Hälfte seiner Bekannten hatte in den vergangenen Jahren ihren Besitz veräußert, als der russische Adel allmählich seinen Untergang auf sich zukommen sah. Es hatte jedoch keinen Sinn, dem jungen Alexander dies zu sagen. Alexander kritisierte den Vater auch in anderer Hinsicht. »Warum stellen denn die Arbeiter solch schlimme Forderungen an den Zaren?« fragte er vorwurfsvoll und gab gleich die Antwort: »Es ist wegen der zemstvos, Vater, es ist deinetwegen.« Nikolaj wußte, daß er den Sohn wegen einer solchen Ungehörigkeit hätte bestrafen müssen. Doch als er ihn so vor sich stehen sah, Tränen des Zorns in den Augen, brachte er es nicht übers Herz. Und es stimmte ja, was der Junge sagte. Vergangenes Jahr, noch vor Ausbruch der Schwierigkeiten, waren er und andere liberale zemstvo -Mitglieder in St. Petersburg zusammengekommen und hatten ihren Vorschlag für den Zaren ausgearbeitet, in dem sie die Wahl einer Versammlung, eines Parlaments, zur Unterstützung der Regierung gefordert hatten. Und es traf auch zu, daß die Arbeiter und Revolutionäre die Forderungen der zemstvo -Leute aufgriffen und eine gewählte Versammlung forderten.
Wie deutlich zeigt sich doch die Rückständigkeit Rußlands, dachte Nikolaj, daß es selbst heute, im Jahre 1905, für die Regierung an Verrat grenzt, wenn das Volk ein Mitspracherecht in den Angelegenheiten des eigenen Landes fordert. Alexander jedenfalls betrachtete es als Verrat.
Als der Junge den Marktplatz zur Hälfte überquert hatte, sah er die vertraute Gestalt Vladimir Suvorins, und sogleich lächelte er. Die Beziehung zwischen dem jungen Adligen und dem Industriellen ist einfach beschrieben: Suvorin war Alexanders Idol. Der Mann hatte sich im Lauf der Jahre kaum verändert. Er war etwas voller geworden, seine Schläfen waren leicht ergraut, doch seine kräftige, gepflegte Erscheinung war die gleiche geblieben. Der Junge war natürlich von seinem außerordentlichen Charme eingenommen, aber entscheidend war, daß er in Suvorin den überlegenen Geschäftsmann und, vor allem, einen Konservativen sah. Da Vladimir Suvorin die Loyalität des Jungen dem Zaren gegenüber kannte, meinte er mitunter lachend: »Du solltest nicht zu gut von mir denken, lieber Freund. Meine Liebe zum Zaren ist reiner Egoismus.« Doch selbst diese sehr offenen Äußerungen änderten Alexanders Ansichten über Rußland oder sein Idol nur wenig. Suvorin unterstützte den Zaren, und das allein war wichtig. Suvorin war eben auf dem Weg zur Baumwollfabrik. Er nickte dem Jungen, der sich ihm wie selbstverständlich anschloß, kurz zu. »Ist es wirklich ein Streik?« fragte Alexander Bobrov. »Ja.« Suvorin wirkte ruhig.
»Was werden Sie tun?« flüsterte Alexander. »Holen Sie die Kosaken?« Er hatte gehört, daß mehrere Streiks bereits durch die verwegenen Kavallerie-Schwadronen der Kosaken niedergeschlagen worden waren.
Doch Suvorin schüttelte den Kopf. »Ein solcher Dummkopf bin ich nicht«, antwortete er.
Eine halbe Stunde lang gingen sie in verschiedenen Abteilungen des Suvorinschen Unternehmens umher: in der Spinnerei, in der Weberei, in den Unterkunftsräumen. Alle Maschinen waren abgeschaltet. Die Arbeiter standen meist in Gruppen umher und unterhielten sich leise, und als Suvorin vorbeikam, grüßte man sich gegenseitig höflich.
»Weißt du, der Streik geht nicht gegen mich oder die Arbeitsbedingungen in meinen Betrieben«, erklärte Suvorin Alexander. »Das hier ist etwas anderes. Leute von außerhalb sind gekommen und haben sie zu einem Sympathiestreik überredet. Sie fordern politische Reformen. Wenn ich die Kosaken holen würde, würde das die Lage nur verschlimmern.«
Alexander seufzte. »Das sind diese zemstvo- Leute wie mein Vater, nicht wahr?« murmelte er. »Sie haben all diese Schwierigkeiten angezettelt.«
Suvorin schüttelte energisch den Kopf. »Mache deinem
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