Russka
Ach, meine arme Natalia.« Es war ungewöhnlich, daß Onkel Boris in einer Sommernacht auf die Jagd ging. »Ich gehe nach Süden ins Moor«, sagte er ruhig. »Ich suche mir eine gute Stelle und sehe einmal, was die Dämmerung so bringt.« Die Nächte waren kurz und warm. Alle Arten von Wild kamen am frühen Morgen übers Moor. Bei Einbruch der Dunkelheit bereitete Boris sein Gewehr vor. Ivan sah, daß er vor dem Weggehen noch ein großes Jagdmesser in den Gürtel steckte. Als die Nacht kam, nahm er das Boot und ruderte südwärts.
Als Arina Ivan zu Bett brachte, erzählte er der Mutter von Onkel Boris' seltsamem Verhalten und fragte: »Wer war Natalia?« Wie merkwürdig sich die Leute an diesem Abend verhielten! Warum war seine Mutter so blaß geworden? Und warum war sie, nachdem sie ihm gesagt hatte, sie gehe noch zur Nachbarsfamilie, heimlich aus dem Dorf gelaufen? Er hatte sie vom Fenster aus genau beobachtet. Sie war den Hügel hinauf zum Haus der Bobrovs gegangen.
Als der Morgen dämmerte, wachte Ivan auf und ging hinaus. Da tauchte Boris aus der Dunkelheit auf. Ivan sah, daß sein Onkel wütend war. Die Wut richtete sich offenbar nicht gegen ihn, denn Onkel Boris blieb lächelnd stehen. »Ist irgend jemand letzte Nacht zu den Bobrovs hinaufgegangen?«
»Nur Mama.«
Und nun, als die Familie vor ihm in der isba stand, schrie Boris Romanov, vor Zorn zitternd: »Du hast ihn gewarnt, nicht wahr?« Arina war eingeschüchtert, trotzdem wagte sie aufzubegehren: »Und wenn schon!«
»Wenn schon? Ich werde es dir zeigen!« Mit einem Satz war er bei ihr, stieß sie zu Boden und schlug ihr zweimal hart ins Gesicht. »Du dummes Stück! Du Mordvinin!«
»Nein, nein!« schrie der kleine Junge und wollte seiner Mutter zu Hilfe eilen, doch Boris schleuderte ihn durchs Zimmer, daß er gegen eine Bank krachte.
Diese verdammte Arina! Boris hatte sein Boot flußabwärts am Ufer versteckt und war in der Dunkelheit zurück nach Russka gelaufen. Mit dem langen Jagdmesser bewaffnet, hatte er sich zu dem Haus am Stadtrand geschlichen, wo der verfluchte rothaarige Schuft wohnte. Boris lachte in sich hinein. Er wollte Popovs Mund zuhalten, ihm die Kehle durchschneiden und dabei flüstern: »Denke an Natalia.« Wenn ich ein bißchen Glück habe, wird man annehmen, einer von Suvorins Männern habe das getan, und dann wird auch er eingesperrt, dachte Boris zufrieden. Rache ist so unendlich süß, besonders wenn man dreißig Jahre darauf warten mußte. Aber da kamen plötzlich zwei Pferde die schmale Straße heraufgetrabt, eines mit einem Reiter, das andere war ein Ersatzpferd. Vor dem Haus, in dem Popov wohnte, sprang der Reiter ab und hämmerte gegen die Tür.
»Jevgenij Pavlovitsch! Popov, verdammt noch mal! Ich weiß, daß du da bist! Komm heraus! Ich bin's, Nikolaj Michailovitsch. Komm schnell!«
Bobrov! Wie, zum Teufel, konnte er das wissen? Und warum sollte er überhaupt die Haut dieses Burschen retten? Verdammt, alle miteinander! Sie steckten alle unter einer Decke. Würde er je wieder eine Möglichkeit zur Rache bekommen?
Er wandte sich wieder an seine Schwester. »Verräterin!« brüllte er. »Weißt du, was du da angerichtet hast?«
»Ja«, schrie sie ebenso zornig zurück, »ich habe Bobrov gebeten, dich von einem Mord abzuhalten. Du kannst nicht einfach herumgehen und Leute umbringen.«
»Auch nicht, wenn er Natalia getötet hat?«
»Nein.«
Er starrte Arina finster an. »Ich sehe, daß du auf der Seite von Bobrov und dem Rothaarigen stehst«, sagte er. »Aber eines verspreche ich dir: Diese Sache werde ich nicht vergessen.« Zwei Tage darauf vernichtete ein Feuer einen Teil von Nikolaj Bobrovs Wäldern. Die Brandursache wurde nie geklärt.
1906
Es war ein früher Abend im Mai, und in dem großen Moskauer Haus wurden Vorbereitungen getroffen. Unter den Angestellten herrschte eine ungewöhnlich erwartungsvolle Stimmung, denn an diesem Abend würden höchst merkwürdige Gäste anwesend sein. In dem behaglichen Zimmer im oberen Stock war jedoch alles ruhig. Frau Suvorin saß in einem langen malvenfarbenen Seidengewand, das dichte braune Haar nur locker zusammengesteckt, an ihrem kleinen Pult und schrieb Briefe. Ihre Tochter Nadeschda saß auf einem Empiresessel mit Stickereibezug. Vor ihr stand ein kleiner runder Tisch mit einem quastenbesetzten Tischtuch. Mit aufgestützten Ellbogen saß sie da und betrachtete ihre Mutter von der Seite. Sie ist wirklich hübsch, dachte die Achtjährige, aber ich wäre für Papa
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