Russka
Minderheiten ist unvorstellbar.« Als er sah, daß sie immer noch zweifelte, fügte er hinzu: »Kommen Sie nach der Versammlung zu mir. Ich werde Ihnen verschiedene Bücher als Lektüre empfehlen.« Rosa setzte sich. Irgend jemand sagte etwas, aber sie hörte nicht zu. Ob sie dem Professor glauben sollte? Sie wußte es nicht. Eines aber wußte sie: Er war der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Vom ersten Augenblick ihrer Begegnung an hatten Peter Suvorin und Rosa Abramovitsch das Gefühl, sich schon ein Leben lang zu kennen.
»Er ist fast doppelt so alt wie du«, gaben ihre Brüder zu bedenken. »Er ist ein Revolutionär, und er ist kein Jude«, hatte die Mutter einzuwenden.
Was also zog Rosa so sehr zu Peter Suvorin hin? War es sein Verstand? Seine brillante Sachkenntnis in bezug auf volkswirtschaftliche Theorien faszinierte sie, selbst wenn sie nicht immer folgen konnte. Doch was sie liebte, waren seine Reinheit, sein leidenschaftlicher Idealismus. Er hatte eine Pilgerseele, war ein Außenseiter, ein Leidender. Er war Junggeselle, hatte in all den Jahren keine Frau gefunden, die ihn hätte verstehen können. Peter seinerseits war überrascht von diesem poetischen Geschöpf, das wie vom Himmel in sein Leben gefallen zu sein schien. Nun ja, sie war Jüdin, aber das war sie nun eben einmal. Und außerdem sagte er sich, daß er niemandem auf der Welt darüber Rechenschaft schuldig war als sich selbst.
Wenn Peter das Gefühl hatte, ein neues Leben zu beginnen, so hatte Rosa den Eindruck, als habe sich ihr Dasein plötzlich geklärt. Es hatte plötzlich einen Sinn. Selbst ihre Gesundheit besserte sich auf unbegreifliche Weise. Obwohl sie ihre Mutter liebte und das Andenken an ihren Vater in Ehren hielt, fand sie sich nicht verpflichtet, weiterhin ihrer Denkweise zu folgen. Sie hatte die jüngere Generation, die Freunde ihrer Brüder gründlich kennengelernt. Viele von ihnen besuchten kaum noch eine Synagoge. Rosa war verliebt. Und nichts sonst zählte.
Im September brach sie mit Peter nach Moskau auf. Kurz darauf, ehe sie heirateten, tat sie den nächsten Schritt: Sie ließ sich in der russisch-orthodoxen Kirche taufen. An ihre Brüder schrieb sie:
Ihr wißt, daß das nichts zu bedeuten hat, aber es macht die Sache hier in Moskau einfacher, vor allem für zukünftige Kinder. Wahrscheinlich müssen wir es Mutter mitteilen.
Als die Mutter einen Monat später tatsächlich davon erfuhr, erklärte sie nur traurig: »Für mich ist Rosa damit gestorben.«
1905
Boris Romanov war jetzt das Familienoberhaupt. Timofej und seine Frau waren der Cholera von 1891 zum Opfer gefallen, die alte Arina war ein Jahr darauf gestorben. Boris hatte eine große Familie, einige Kinder waren schon erwachsen. Dazu hatte er seine Schwester Arina, deren Mann jung verstorben war, und ihren sechsjährigen Sohn Ivan aufgenommen. Ivan vergötterte seinen Onkel Boris. Von ihm hatte er aber auch aufregende Neuigkeiten erfahren. »Dieses Jahr, Ivan, ist das wichtigste in der Geschichte Rußlands. Weißt du auch, warum? Weil die Revolution begonnen hat.« Revolution. Das klang aufregend, auch wenn der Junge nicht genau wußte, was das bedeutete. Der Onkel erklärte es ihm so: »Es bedeutet, daß wir die Bobrovs hinauswerfen und uns das ganze Land nehmen. Was hältst du davon?« Ivan gab zu, daß sich das wunderbar anhörte. Er wußte natürlich, daß seine Mutter Arina die Bobrovs schätzte und nicht jeder im Ort schlecht über sie sprach. Aber Onkel Boris hatte immer recht.
Die außergewöhnlichen Ereignisse des Jahres 1905 hatten sich seit langem zusammengebraut. Die Regierung Alexanders III. war reaktionär gewesen, und die letzten elf Jahre unter seinem einfallslosen Sohn Nikolaus II. und seiner deutschen Gemahlin hatten eine traurige Fortsetzung der glanzlosen Zustände des früheren Regimes bedeutet. Fast ein Jahrhundert lang war Finnland selbständiges Herzogtum innerhalb des russischen Reiches gewesen. Nun hatte die Regierung plötzlich beschlossen, es zu russifizieren, wie es zuvor der Ukraine geschehen war. Daraufhin begehrten die Finnen auf.
In der Ukraine hatte es inzwischen einen Bauernaufstand und 1903 einen furchtbaren Pogrom gegeben. Die aufgeschreckte Regierung, entschlossen, die Lage in den Griff zu bekommen, handelte kopflos. Ohne jeden Grund wurde auf den
Universitäten scharf vorgegangen, und als einige Studenten protestierten, behandelte man sie wie politische Aufwiegler und steckte sie in die Armee. Die Regierung
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