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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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massiver, mit grünem Tuch bespannter Tisch, auf dem sicher hundert Personen leicht hätten stehen können. Die darüber hängenden Messingleuchter brachten das vergoldete Mosaik des Gewölbes zum Leuchten. An den Wänden, die über und über mit Bildern behängt waren, standen hochlehnige Stühle und Tische aus dunklem Holz aufgereiht. Eines der Bilder zog Alexanders besondere Aufmerksamkeit auf sich. Es zeigte Ivan den Schrecklichen. Seine furchteinflößenden Augen blickten – so schien es Alexander – streng auf Nikolaj Bobrov herunter; recht hat er, dachte Alexander, in Anbetracht des schmachvollen Vorhabens seines Vaters: Nikolaj wollte seinen Besitz Vladimir Suvorin veräußern.
    Er war zum Ergebnis gekommen, daß er ihn nicht länger halten konnte. Seit dem letzten Jahr sahen sich zahlreiche Landbesitzer in ganz Rußland zum Verkauf gezwungen. Suvorin hatte Bobrov einen ausgezeichneten Preis geboten. »Mehr, als das Gut wert ist«, hatte Nikolaj seinem erbosten Sohn erklärt. Als er nun das unglückliche Gesicht des Jungen sah, murmelte er: »Es tut mir leid.«
    Vladimir Suvorin ließ sie nicht lange warten. Er betrat den Raum mit seinem Anwalt, umarmte Nikolaj herzlich, drückte Alexanders Arm, und gleich darauf war der Tisch vor ihnen mit Papieren bedeckt.
    Suvorin war in guter Stimmung. Seit langem hatte er an einen Landsitz in der Nähe seiner Fabriken in Russka gedacht. In den letzten Jahren interessierte er sich auch für das russische Handwerk. »Ich werde Werkstätten für Holzschnitzerei und Keramik auf dem Gut einrichten«, hatte er Nikolaj erzählt, »auch ein kleines Museum für Volkskunde.« Als er nun Vater und Sohn mit finsteren Mienen vor sich stehen sah, verstand er intuitiv, was in ihnen vorging. »Dein Vater hat eine kluge Entscheidung getroffen«, erklärte er Alexander ernst. »Alle klugen Leute verkaufen, liebe Freunde, nur Narren wie ich kaufen.« Und zu Nikolaj gewandt fuhr er fort: »Ich beneide Sie eigentlich. Sie sind jetzt so frei wie ein Vogel. Sie sollten eine Europareise machen. Adlige werden in Paris und Monte Carlo mit großem Respekt behandelt. Sie sollten Ihrem Sohn die Welt zeigen.«
    Nicht einmal diese freundlichen Worte konnten Alexander ein Lächeln entlocken. Er wußte nur eines: Die Bobrovs hatten ihre Besitzungen gehalten, seit Rußland bestand; sein Vater dagegen hatte sie mit seinen liberalen Ideen verloren. Er hatte offenbar seine Pflichten nicht erfüllt. Als er bewundernd zu Suvorin hinüberblickte, dachte er wieder: Wenn er nur mein Vater wäre! Da winkte Vladimir sie heran. »Genug der Geschäfte, meine Freunde. Es ist Zeit, die anderen Gäste zu begrüßen.« Frau Suvorins Feste waren zu Recht berühmt. Bildende Künstler, Musiker und Schriftsteller verkehrten im Hause Suvorin, aber auch die Aristokratie verschmähte die Gastfreundschaft des Kaufmanns nicht, und selbst ein stolzer Petersburger Intellektueller wie Fürst Schtscherbatov war regelmäßig zu Gast. Der Einfluß Suvorins war allenthalben zu spüren – in den Theatern, den Kunstakademien, im Zeitungswesen. Auch ein merkwürdiger Mann namens Diaghilev, der sich anscheinend zum Fürsprecher der russischen Kunst und Kultur machen wollte, fand Protektion und Unterstützung im Haus Suvorin.
    Frau Suvorin pflegte diese Abende unter wechselnde Themen zu stellen. »Heute abend geht es nur um Politik«, flüsterte Vladimir Nikolaj zu, als sie den großen Salon betraten. Das Motto bot auf jeden Fall reichlich Gesprächsstoff. Erstaunliches hatte sich in den vergangenen neun Monaten auf politischem Gebiet ereignet. Im letzten Sommer hatte sich die Situation verschlimmert, während der Zar weiterhin zögerte. Es hatte ständig terroristische Übergriffe und Schwierigkeiten in der Arbeiterschaft gegeben. Warum, zum Teufel, hört er nicht auf die zemstvos? hatte Nikolaj sich gefragt. Da trat im Oktober das Unvorstellbare ein. Es gab einen Generalstreik. Zehn furchtbare Tage bewegte sich nichts im gesamten russischen Reich. Die Regierung war machtlos. Schließlich lenkte der Zar ein. Er sagte dem Volk ein Parlament zu, die Duma. »Endlich ist der arme Mann zur Einsicht gekommen. Wir werden eine konstitutionelle Monarchie wie in England haben.« Nur mit der Ausnahme, daß es sich hier um Rußland handelte. Diese erste Duma des russischen Staates war folgendermaßen organisiert: Es wurden Wahlen abgehalten, an denen sich die meisten russischen Männer beteiligen konnten. Sie wurden dabei aber in Klassen

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