Russka
schon einen erfahrenen Holzschnitzer und einen Töpfer untergebracht. Das Museum barg bereits Schätze. Da gab es die traditionellen Spinnrocken, reich geschnitzte und bemalte Holzlöffel, Pressen für die Verzierung von Brot und Kuchen und wundervoll bestickte Stoffe. Vladimir hatte auch mit einer Ikonensammlung begonnen.
Im Wohnhaus gab es eine umfassende Bibliothek und einen Flügel. Frau Suvorin, die vom Leben auf dem Land sichtlich gelangweilt war, saß meistens auf der Veranda und las. Arina führte den Haushalt umsichtig, und ihr kleiner Ivan trieb sich ständig herum in der Hoffnung, einen Spielgefährten zu finden. Er und Nadeschda waren ungefähr gleichaltrig, und die beiden spielten mit Vergnügen Verstecken in den Wäldern oberhalb des Hauses. Nachmittags nahm Vladimir Nadeschda und die Jungen oft mit an den Fluß zum Baden. Er war noch sehr beweglich und ein erstklassiger Schwimmer. Danach saßen sie auf der Bank und unterhielten sich.
Vladimir war auch ein großartiger Erzähler. Er sprach mit den Kindern über alles, als wären sie Erwachsene. Eines Nachmittags erläuterte er ihnen seine Ansichten über Rußlands Zukunft. »Rußland befindet sich in einem Wettlauf mit der Zeit«, sagte er. »Ich persönlich bin auf der Seite Stolypins, und er weiß, daß er Rußland modernisieren und zugleich die revolutionären Kräfte in Schranken halten muß. Hat er Erfolg, behält der Zar seinen Thron; wenn nicht… gibt es ein Chaos. Bauern und Städter werden rebellieren.«
»Was muß Stolypin denn tun?« fragte Karpenko.
»Im wesentlichen drei Dinge. Die Industrie muß ausgebaut werden. Mit Hilfe von Fremdkapital geht das gut voran. Als nächstes müssen die Massen erzogen werden. Früher oder später wird es eine Art von Demokratie hier geben, und das Volk ist nicht darauf vorbereitet. Stolypin ist in dieser Hinsicht erfolgreich. Als drittes versucht er, die Landbevölkerung zu reformieren.« Er seufzte. »Aber das, fürchte ich, wird schwierig sein.«
Der Versuch, den russischen Bauern zu ändern, war der Kernpunkt der Reformen Stolypins, das wußte Dimitrij. In den vergangenen zwei Jahren war bereits Wichtiges geschehen. Die Zahlungen an die früheren Landbesitzer waren nicht mehr zu leisten. Den Bauern waren volle bürgerliche Freiheiten zuerkannt worden; sie konnten die gleichen Gerichtshöfe wie jeder andere Bürger in Anspruch nehmen, sie erhielten Inlandspässe für Reisen, ohne die Erlaubnis der Gemeinde einzuholen. Endlich war der Bauer, ein halbes Jahrhundert nach der Befreiung von der Leibeigenschaft, theoretisch und praktisch ein freier Mann. Doch immer noch gab es ein Problem.
»Was aber kann für die Kommune getan werden?« überlegte Vladimir laut. Der unrentable Streifenanbau aus dem Mittelalter hatte sich in der Kommune noch kaum geändert. Die russische Getreideernte betrug nur ein Drittel der westeuropäischen Ernten. Um eine Verbesserung herbeizuführen, versuchte Stolypin die Bauern dazu zu bringen, sich von der Kommune abzusetzen und eigenes Land als unabhängige Landwirte zu bestellen. Günstige Kredite wurden von der Landwirtschaftsbank gewährt. Aber noch ließ der Fortschritt auf sich warten.
»Aber versucht Stolypin denn nicht, aus dem Bauern einen Bürger, einen Kapitalisten zu machen?« wandte Dimitrij ein. »Natürlich tut er das«, antwortete Vladimir. »Im Gegensatz zu dir bin ich ein Kapitalist. Ich muß allerdings zugeben, daß es sehr schwierig sein wird, das in die Praxis umzusetzen.«
»Ich dachte, es würde einfach sein«, warf Karpenko ein.
»Ja, mein Freund.« Vladimir fuhr dem Jungen liebevoll durchs Haar. »Du kommst ja auch aus der Ukraine. Dort unten in den westlichen Provinzen Weißrußlands gibt es die Tradition der unabhängigen Landwirtschaft, aber hier in den zentralen Provinzen ist das Kommunesystem festgefügt. Sieh dir doch nur diesen Ort hier an! Sieh dir Boris Romanov, den Dorfältesten, an.« Dimitrij und Karpenko hatten Romanov bald kennengelernt. Als Dorfältester war er eine einflußreiche Persönlichkeit, was er offensichtlich genoß. Die Familie mit ihren drei kräftigen Söhnen besaß zur Zeit den längsten Feldstreifen des ganzen Dorfes. In jenem Frühjahr aber, als Stolypins Reformen staatliches Land beim Kloster zum Verkauf freigaben und Vladimir zu Romanov beiläufig bemerkte: »Nun, Boris Timofejevitsch, ich denke doch, daß Sie selbst etwas davon kaufen«, hatte dieser mit finsterer Miene geantwortet: »Die Kommune kauft das Land.« Und
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