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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Aber, Volodja…« Dimitrij hatte niemals jemanden diese Koseform zu seinem Onkel sagen hören. »Volodja, ich habe solche Angst.«
    »Du brauchst Schlaf. Höre auf, dich zu quälen. Bleibe wenigstens eine Weile hier bei mir. Ich muß im nächsten Frühjahr nach Berlin und Paris. Komm mit mir! Wir können in ein Bad fahren, und du machst eine Kur. Ich glaube, du weißt, daß du sicher bist bei mir.« Dimitrij starrte mit weit offenen Augen auf die Szene; seine Mutter berührte liebevoll Vladimirs große Hand. »Ich weiß.« Dimitrij saß kerzengerade, dann zuckte er schmerzlich zusammen. Beide Gesichter wandten sich ihm zu: das seines Onkels irritiert, das seiner Mutter abwesend. Da sagte Vladimir ruhig: »Ach, du bist aufgewacht. Trinken wir Tee zusammen.« Dimitrij konnte sich keinen Reim auf das machen, was er da eben gehört hatte. Am nächsten Morgen erklärte Rosa, sie müsse nach Moskau zurückkehren. »Ich bin schon zu lange von deinem Vater getrennt gewesen«, meinte sie. »Ich mache mir solche Sorgen um ihn.« Wieder wirkte ihr Gesicht eingefallen, und das bedeutete, daß sie vergangene Nacht nicht geschlafen hatte. Wenige Tage später wurde auch Nadeschda von Frau Suvorin nach Moskau zurückbeordert, und da der Arzt Dimitrij keine Bewegung erlaubte, wurde er sozusagen allein in Russka zurückgelassen. Vladimir nahm nun mit ruhiger Entschiedenheit das Leben des Jungen in die Hand.
    Zwei Tage nach Rosas Abreise erschien der Onkel mit mehreren Büchern und stapelte sie auf dem Tisch neben dem Bett. »Du spielst gut, mein Freund, und du hast ein paar hübsche Kompositionen zuwege gebracht«, erklärte er. »Aber da du nun ans Bett gefesselt bist, hast du Zeit, auch zu begreifen, was du da tust. Das sind Bücher über Musiktheorie und Kompositionslehre. Lies sie gründlich!« Zuerst war es harte, ja langweilige Arbeit. Jeden Abend aber ging der Onkel mit ihm die Aufgaben durch: Harmonielehre, Kontrapunkt, die Vielschichtigkeit musikalischer Regeln. Vladimir war zwar ein Amateur, aber er hatte ein beträchtliches Musikverständnis, und er war ein strenger Lehrer. »Jetzt begreife ich, warum deine Fabriken einen hohen Gewinn abwerfen«, meinte Dimitrij lachend. In nur sechs Wochen machte der Dreizehnjährige erstaunliche Fortschritte. Nun hatte er den brennenden Wunsch, sein neuerworbenes Wissen in Kompositionen anzuwenden. Als der Arzt im September Dimitrijs Verlegung nach Moskau zustimmte, erklärte er Vladimir: »Weißt du, ich glaube, ich werde tatsächlich Komponist.« Sein Onkel lächelte einfach und sagte: »Natürlich wirst du einer.« Was diese Studienzeit anbetraf, meinte Dimitrij Suvorin später, als er bereits berühmt war: »Der Sturz vom Pferd machte mich zu dem, was ich bin.«
    Der Sturz vom Pferd hatte noch eine weitere Folge. Ob es nun ein komplizierter Bruch war oder ob die technischen Kenntnisse des Fabrikarztes nicht ausreichten – Dimitrijs rechtes Bein behielt eine falsche Stellung bei, und der Musiker ging bis an sein Lebensende am Stock.
    Nicht nur, daß Alexander Bobrov jeden Vorwand ausnutzte, um in Vladimir Suvorins großem Haus einen Besuch zu machen, oft ging er auch nur daran vorbei, in der Hoffnung, einen Blick von Nadeschda zu erhaschen. Trotz des peinlichen Zwischenfalls an Ostern hatte er nicht für einen Moment seine Idee aufgegeben. »Ich werde sie heiraten«, erklärte er seinem Vater rundheraus. An diesem Abend im September war es schon spät. Vorhänge und Fensterläden waren alle geschlossen, und nur aus Gewohnheit führte ihn sein Weg an Suvorins Haus vorüber. Ein leichter Nebel lag über allem; die Straßenlaternen bildeten undeutliche gelbe Flecken. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Alexander hätte wohl nicht einmal zum Haus hingeblickt, wären nicht leise Schritte zu hören gewesen, die vor der Eingangstür haltzumachen schienen. Er spähte über die Straße. Vor dem Portikus konnte er eine vermummte Gestalt mit einem breitrandigen Filzhut entdecken. Gleich darauf öffnete sich die Tür ein wenig, und die Gestalt ging rasch hinein. Als die Tür sich schloß, hielt Alexander den Atem an: Der Mann hatte den Hut abgenommen, und das volle rote Haar war ein untrügliches Zeichen: Der Mann war Jevgenij Popov. Was, zum Teufel, will sie nur mit mir? Diese Frage hatte sich Popov oft gestellt. Sie besaß alles: einen brillanten Ehemann, ein großes Vermögen, alles, was die bürgerliche Welt anzubieten hatte. Natürlich langweilte sich die obere Bourgeoisie manchmal. War

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