Russka
er fügte zwar leise, doch hörbar hinzu: »Und Sie räuchern wir eines Tages auch noch aus.«
»Nichts wird Romanov davon überzeugen, daß die Wegnahme dieses Besitzes nicht die letzte Antwort ist«, fuhr Vladimir fort. »Und wißt ihr, was das Schönste an der Sache ist? In vielen Provinzen gibt es gar nicht genug Land, um es den Bauern abzutreten. Am besten siedeln sie sich in weniger bevölkerten Gegenden an, was Stolypin übrigens auch fördern möchte. Die Bauern unterstützen also die Sozialrevolutionäre – selbst die Terroristen –, weil diese versprechen, das ganze Land zu verteilen. Der einfache Bauer tut von sich aus wenig, er wartet vielmehr auf ein Wunder – passiv, aber verärgert. Er leidet lieber jahrzehntelang unnötig und greift dann plötzlich zu sinnloser Gewalt. Im Jahre 1905 hatten wir einen Krieg und Lebensmittelknappheit. Das hat schließlich die Revolution verursacht. Ich nehme deshalb an, daß Stolypin zwei Dinge braucht, um das Rennen zu gewinnen: Frieden und gute Ernten. Damit wird Rußlands Schicksal entschieden.« Sie verbrachten einen friedvollen, glücklichen Sommer. Morgens durchstreifte Karpenko oft das Land, oder er zeichnete; dann wieder dachte er sich phantastische Spiele für Ivan und Nadeschda aus, die voller Verehrung zu ihm aufblickten. Inzwischen übte Dimitrij stundenlang Klavier. Nachmittags gingen sie entweder mit Vladimir zum Baden, oder sie saßen lesend auf der Veranda; manchmal spielten sie mit Frau Suvorin Karten.
Die Abende genoß Dimitrij besonders. Während die anderen in der Bibliothek lachten oder sprachen, saß er am Klavier und wagte zaghaft seine eigenen Kompositionen. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er eine weitere besondere Eigenschaft seines Onkels. Manchmal nämlich kam Vladimir leise herein und setzte sich in eine dunkle Ecke. Wenn Dimitrij eine Pause machte, kam der Onkel herüber und meinte mit seiner wohlklingenden Stimme: »Warum versuchst du es nicht so?« Oder: »Wenn du den Rhythmus hier ändern würdest…«
Dimitrij stellte fest, daß der Onkel genau das traf, was er selbst hatte ausdrücken wollen. »Woher kennst du meine Gedanken so genau?« fragte er. »Komponierst du oder ich?«
Worauf der Onkel ein wenig traurig erwiderte: »Manchen ist es gegeben, etwas zu schaffen, Dimitrij. Andere dagegen verstehen nur den schöpferischen Akt.«
Dimitrij mußte diesen Mann bewundern, und er spürte, wie das Band, das sie beide verknüpfte, immer stärker wurde. Einen Tag vor seiner Abreise nahm Karpenko Dimitrij beiseite und sagte: »Machen wir einen Spaziergang zu den Quellen, nur du und ich.«
Es war ein herrlicher Spaziergang. Karpenko hatte ein ansteckendes Lachen, und Dimitrij dachte, was für ein Glück es doch sei, einen solchen Freund zu haben. Karpenko wußte mehr als Dimitrij und gab sein Wissen großzügig weiter wie ein beschützender älterer Bruder, obwohl er, wohl wegen seiner weichen, makellosen Haut, etwas Mädchenhaftes hatte. Nachdem sie eine Weile im Moos der Quellen gerastet hatten, wandte Karpenko sich plötzlich ernst an Dimitrij: »Hast du schon einmal von einer Sache gehört, die man als das › Außerirdische Argument‹ bezeichnet?« Dimitrij schüttelte den Kopf.
»Stelle dir vor, daß Lebewesen von einem anderen Planeten zu uns kommen und sehen, wie wir leben – all die Ungerechtigkeit auf unserer Welt. Und sie würden dich fragen: ›Was tut ihr dagegen?‹ Und du müßtest antworten: ›Nicht viel.‹ Was würden sie sagen, Dimitrij? Wie sollten sie einen solchen Wahnsinn begreifen? Was ich sagen will, bevor ich abreise: Sollten wir uns nicht verpflichten, etwas für eine neue, eine bessere Welt zu unternehmen, du und ich?«
»Aber ja!«
»Gut. Ich wußte, du würdest zustimmen.« Langsam zog er eine Nadel aus seiner Tasche; damit stach er sich in den Finger und preßte Blut heraus. Dann reichte er Dimitrij die Nadel. »Wir schließen also einen Pakt«, sagte er. »Blutsbrüder.« Dimitrij errötete vor Stolz. Es war zu jener Zeit Mode, vor allem zwischen jungen Revolutionären beim Abschluß von Vereinbarungen, die alte Sitte der Blutsbrüderschaft zu vollziehen. Daß Karpenko ihm, Dimitrij, eine solche Ehre antat! Sie vermischten ihr Blut Karpenko war erst wenige Tage fort, als Frau Suvorin aus St. Petersburg die Nachricht erhielt, ihre Schwester sei erkrankt; sie fühlte sich verpflichtet, hinzureisen. Nadeschda und Dimitrij blieben noch; unter Aufsicht von Vladimir und Arina konnte ihnen kaum etwas
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