Russka
geschehen. So verging eine angenehme Woche. Es war üblich, daß die Stallburschen täglich die Pferde an den Fluß führten. Wenn sie beobachtet wurden, geschah das auf ordentliche Art und Weise, andernfalls saßen sie ohne Sattel auf und jagten den Abhang hinunter. Immer wenn der kleine Ivan Arinas aufmerksamen Augen entwischen konnte, war er mit von der Partie. Hätte Nadeschda ihn an diesem warmen Julitag nicht beobachtet, wäre es Dimitrij vielleicht nicht passiert. Als jedoch der neunjährige Ivan fröhlich von einem Pferderücken auf dem Stallhof auf ihn herabblickte, beschloß Dimitrij, der Nadeschda imponieren wollte: Wenn der kleine Kerl das kann, kann ich es auch. Einen Augenblick später war er auf ein Pferd geklettert und ritt auf den Abhang zu. Zuerst im Schritt, dann im Galopp; die Tiere waren erregt. Hufe stampften auf den harten Boden, wilde Schreie waren zu hören. Dimitrij klammerte sich an der Mähne fest. Der Boden kam auf ihn zu, bewegte sich wieder von ihm weg. Plötzlich schlug ihm der Schößling eines Baumes ins Gesicht. Dimitrij verlor das Gleichgewicht und fiel vornüber, als ein anderes Pferd an ihm vorbeistob.
Dimitrij hörte, wie sein Bein splitterte. Er war noch bei Bewußtsein, als Nadeschda schon neben ihm kniete.
Er begriff lange Zeit nicht, daß nun nichts mehr so sein würde wie zuvor. Sie hatten sein Bett ins Erdgeschoß in den großen luftigen Raum mit dem Klavier gebracht. Er langweilte sich nicht: Es gab genügend Bücher, Arina sah häufig nach ihm, und Nadeschda saß gern neben ihm und plauderte auf ihre unnachahmliche Weise. Doch am meisten freute er sich auf seinen Onkel Vladimir, der ihm erzählte oder stundenlang vorlas. Nur eines vermißte er – vorläufig konnte er nicht Klavier spielen.
Dann kam seine Mutter. Sie sah nicht wohl aus bei ihrer Ankunft. Ihre großen Augen waren eingesunken, ihr schwarzes Haar mit grauen Strähnen durchzogen, und weil es dicht und lang herabhing, wirkte es ungepflegt. Dimitrij liebte sie, aber gleichzeitig tat sie ihm leid, denn sie war sicher nicht glücklich.
Vladimir deckte eine neue Begabung der Mutter auf. »Du mußt ausruhen, solange du hier bist, Rosa«, drängte er. »Und du mußt spielen«, fügte er entschieden hinzu. »Wir dürfen diesen jungen Mann keinesfalls ohne Musik lassen.« Zu Dimitrijs großem Erstaunen begann seine Mutter gleich am folgenden Tag damit. Er hatte sie nie vorher spielen hören, aber er wußte, daß sie früher einmal Klavier gespielt hatte. Als er jünger war, hatte sie ihm oft über ein paar Takte hinweggeholfen, wenn er in Schwierigkeiten kam, und daher wußte er, daß sie eine großartige Technik hatte. Aus irgendeinem Grunde jedoch hatte sie sich nie ans Klavier gesetzt. Nun aber begann sie, wenn auch zögernd, mit einfachen Stücken. Dann folgte eine Beethoven-Sonate, eine nächste. Später Stücke von Tschaikovskij, Rimskij-Korsakov und anderen Russen. Sie spielte eine Stunde oder auch zwei. Dimitrij hörte mit wachsender Verwunderung zu. Sie spielt fabelhaft, dachte er; ein großes Talent. Am fünften Tag hatte Rosa eine Verwandlung durchgemacht. Es war, als hätte sie ihre Trauer wie eine ungewollte Haut abgestreift. Ihr Haar war nun ordentlich zurückgekämmt. Die frische Luft und ein paar Nächte Schlaf hatten ihr Gesicht entspannt und die Falten geglättet. Nun warf sie still triumphierend den Kopf zurück, während Beethovens Appassionata aus ihren Fingern strömte.
»Ich wußte nicht, daß du so gut spielst«, bemerkte Dimitrij eines Tages, und dann fügte er rasch hinzu: »Und auch nicht, daß du so schön bist.«
»Es gibt vieles, das du nicht weißt«, erwiderte Rosa heiter und lief lachend mit Vladimir und Nadeschda auf die Veranda. Und dann war das ebenso plötzlich zu Ende. Es war an einem sonnigen Nachmittag. Rosa war nun zehn Tage da. Am Tag vorher hatte Vladimir ihr einige Partituren des von ihm bevorzugten russischen Komponisten der damaligen Zeit, des brillanten Skrjabin, mitgebracht. Rosa spielte sie, während Vladimir es sich in einem Sessel bequem gemacht hatte.
Dimitrij war ganz gegen seine Gewohnheit eingeschlafen. Als er aufwachte, hatte Rosa aufgehört zu spielen, und Vladimir stand neben dem Klavier. Sie dachten wohl, daß er noch schlafe… er verstand fast jedes Wort.
»Du kannst nicht so weitermachen. Ich sage dir das seit drei Jahren.« Die Baritonstimme seines Onkel klang sanft beschwörend. »Ich kann es nicht mit ansehen.«
»Man kann nichts dagegen tun.
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