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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Seit seiner frühen Kindheit erklärte Dimitrij sich die Welt mit Hilfe der Musik. Noten waren Farben für ihn. Seit Rosa ihm die verschiedenen Tonarten auf dem Klavier erklärt hatte, besaß jede für ihn einen eigenen Charakter, eine eigene Stimmung. Anfangs verband er diese Entdeckungen mit den Instrumenten, die er spielte. Als er neun Jahre alt war, änderte sich das allerdings. Er war eines Abends in der kleinen Kirche nebenan zum Besuch der Vesper gewesen. Die Kirche hatte einen guten Chor, und die einprägsamen Gesänge gingen ihm nicht aus dem Kopf, als er die Kirche verließ. Gerade ging die Sonne unter, und der Himmel über Moskau war rotgolden. Minutenlang stand Dimitrij da und blickte nach Westen, in die herrlichen Farben. Er versuchte auszudrücken, was er sah, und wählte hierfür einen Akkord in c-Moll. Gleich darauf fügte er einen weiteren hinzu.
    Es war seltsam, dachte er; er hatte die Akkorde gewählt, sie diesem Sonnenuntergang zugeordnet. Und doch war es, während er so schaute, als antwortete ihm der Himmel und sagte: Ja, das ist mein Klang. Nun ging Dimitrij in den Hof. Der rötliche Schein fing sich in den oberen Zweigen des Maulbeerbaumes, darunter lag warmer Schatten. Da hörte er einen neuen Akkord und eine kleine Melodie; diesmal kam die Musik so unmittelbar, daß es ihm war, als habe er sie nicht gewählt, sondern er hörte sie einfach. Es war wunderbar! Ein merkwürdig warmes Gefühl durchströmte seinen Magen. Gleich darauf kamen ein paar Kinder in den Hof, aber Dimitrij wollte sich von ihnen nicht ablenken lassen. Er stellte beglückt fest, daß er mit einiger Anstrengung die Akkorde im Kopf behalten konnte.
    So fing alles an. Er brauchte sich nur ein wenig zu konzentrieren, und schon konnte er in diesen Traum eintreten, wann immer er wollte. Das ging so weit, daß er sich lange mit Leuten unterhalten konnte und sich danach nicht mehr daran erinnerte. Bald wurde ihm noch anderes bewußt. Sobald er sich in seine andere Welt begab, war es ihm, als würde nicht er Musik erfinden, sondern ihr einfach zuhören, während die wundervollen Harmonien außerhalb seiner selbst entstanden. Es dauerte nicht lange, da begann dieses musikalische Jenseits ins Diesseits einzufließen. Dimitrijs Gedankenwelt füllte sich mit musikalischen Traumgebilden; die Menschen, die täglich um ihn waren – seine Lehrer, seine Mutter, sein Onkel Vladimir –, wurden zu Singstimmen: sein Vater ein Tenor, der Onkel ein wohltönender Bariton – wie Charaktere in einer Oper, die ihm erst zum Teil offenbar wurde. Zwei Ereignisse jenes Sommers prägten sich Dimitrij tief ein. Im Juni löste der Zar die Duma auf, und am folgenden Tag wurde ein neues Wahlsystem verkündet. »Der Zar konnte sich nicht mit den Sozialisten abfinden«, erklärte Peter bei seiner Rückkehr. »Dieses neue System ist absurd. Unter den neuen Gesetzen des Zaren zählt die Stimme eines Landbesitzers ungefähr so viel wie die von fünfhundertvierzig Arbeitern. Der konservative Adel bekommt die Mehrheit. Ich bin auf jeden Fall draußen.«
    »Aber ist das legal? Darf der Zar die Gesetze einfach so ändern?« fragte Dimitrij.
    Peter zuckte die Achseln. »Nach der im letzten Jahr verabschiedeten Verfassung ist es illegal. Aber da der Zar damals die Gesetze gemacht hat, setzt er voraus, daß er sie jetzt ändern darf. Er meint, Rußland sei ein riesiger Familienbesitz, den er seinem Sohn so übergeben muß, wie er ihn von seinem Vater erhalten hat. Es ist schon fast komisch.«
    Der neue Ministerpräsident des Zaren, Stolypin, war ein äußerst fähiger Mann, der die Reform des rückständigen Reiches anstrebte. »Reformen können jedoch nur stattfinden, wenn eine Säuberung erfolgt ist«, erklärte er. Diese wurde durchgeführt. Nicht weniger als tausend Personen, denen terroristische Aktivitäten angelastet wurden, hatte man im vergangenen Jahr hingerichtet. Die Russen nannten die Schlinge des Henkers nun »Stolypins Halstuch«. Überall lauerten Polizeispitzel. Popov und andere waren klugerweise verschwunden, hatten sich vielleicht ins Ausland abgesetzt. Zum erstenmal betrachtete Dimitrij die Revolution nicht mehr als einen positiven Zustand, der in Zukunft zwangsläufig eintreten mußte, sondern als eine erbitterte, gefährliche Auseinandersetzung zwischen seinem Vater und dem Zaren. Von da an lag ein Schatten auf dem Leben des Jungen.
    Im Spätsommer traf ein Brief aus der Ukraine ein. Er kam von Rosas Jugendfreund Ivan Karpenko und enthielt eine

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