Russka
Mentalität genau.
Zu Ostern des nächsten Jahres zeigte eine kleine Begebenheit, was im Kopf des jungen Bobrov vorging. Wie überall in Rußland, herrschte auch im Hause Suvorin am Ostertag große Geschäftigkeit. Obwohl weder Vladimir noch sein Bruder Peter fromm waren, wäre es ihnen nie in den Sinn gekommen, die lange Ostervigil in der Vornacht zu versäumen. Am Ostertag selbst stand das Haus für einen nicht abreißenden Besucherstrom offen.
Im Speisesaal waren reiche Speisen aufgetürmt, die nach der Fastenzeit wieder erlaubt waren. In der Mitte befanden sich die beiden traditionellen Ostergerichte: kulitsch, das weiche dicke Brot mit dem Ostersymbol, und die weiße Süßspeise in Form einer kleinen Pyramide – die paskha. Überall lagen natürlich verzierte Ostereier. Die Bobrovs kamen gegen Mittag, gleich nach Peter Suvorin und seiner Familie, und so wurden Dimitrij und sein Freund Zeugen der kleinen Szene. Die kleine Nadeschda und ihre Mutter trugen die traditionelle Festtracht der russischen Frauen. Frau Suvorin trug außerdem ein hohes Diadem, den kokoschnik, aus Gold und Perlmutt, das ihr noch mehr als sonst ein fürstliches Aussehen verlieh. Wie es der Brauch war, ging jeder Neuankommende von einem zum anderen, küßte jeden dreimal, während der Ostergruß ausgetauscht wurde. »Christ ist erstanden.«
»Er ist wahrhaft erstanden.«
Als Alexander Bobrov vor Nadeschda stand, holte er ein Päckchen aus der Tasche. »Das ist ein Geschenk für dich«, sagte er feierlich. Überrascht öffnete das Mädchen die Schachtel und fand darin ein wundervolles kleines Osterei aus Silber, mit bunten Steinen verziert. Es kam aus der Werkstatt Fabergés. »Das ist hübsch. Ist es für mich?« Er lächelte. »Natürlich.«
Dimitrij und Karpenko beobachteten die Szene erstaunt. Es war zwar eines von Fabergés kleinsten Stücken, aber dennoch ein ungewöhnliches und wohl kaum passendes Geschenk eines Schuljungen.
Mit Adleraugen hatte Frau Suvorin die Sache verfolgt und rauschte heran. »Was für ein entzückendes Präsent.« Sie nahm den Jungen und schob ihn eilends durch den Raum. »Aber mein lieber Alexander«, sagte sie leise, doch bestimmt, »ich kann es nicht gestatten, daß du Nadeschda in ihrem Alter so etwas schenkst. Sie ist wirklich noch zu jung dafür.«
Alexander errötete tief. »Wenn Sie es nicht wünschen…«
»Ich finde es rührend, daß du daran gedacht hast, aber sie ist solche Geschenke nicht gewöhnt, Alexander. Wenn du willst, kannst du es mir geben, und ich bewahre es für sie auf, bis sie älter ist«, sagte sie freundlich.
Betrübt reichte Alexander ihr das Ei.
Der Hinweis war allzu deutlich. Er wollte sich irgendwie erklären, und Frau Suvorin hatte es ihm verwehrt. Er fühlte sich peinlich berührt und gedemütigt. Selbst als Vladimir seinen Arm liebevoll um den Jungen legte und ihn in die Galerie führte, war das ein geringer Trost.
1908
Im Sommer dieses Jahres sah es so aus, als würde es schließlich doch Frieden in Rußland geben. Die Welle des Terrorismus war vorüber. Stolypins harte Maßnahmen hatten den Revolutionären großen Schaden zugefügt, und die jüngst publizierte Entdeckung, daß der führende sozial-revolutionäre Terrorist seit langem ein Polizeispitzel gewesen war, hatte die Partei in den Augen des Volkes geschwächt. Die neue Duma war nicht, wie einige gefürchtet hatten, das Schoßhündchen des Zaren. Liberale wie Nikolaj Bobrov ergriffen kühn das Wort für die Demokratie, und selbst die konservative Mehrheit stand hinter Ministerpräsident Stolypin mit seinen Plänen für eine gemäßigte Reform. Schließlich versprach in diesem Jahr anhaltend gutes Wetter eine Rekordernte. Auf dem Lande war alles ruhig.
Vladimir hatte die Idee, daß sie nach Russka fahren sollten. Das ganze Frühjahr über hatte Rosa schlecht ausgesehen, und Vladimir wie auch Peter drängten sie, der Stadt in der Sommerhitze zu entfliehen. Schließlich kam man überein, daß auch Dimitrij und seine Freunde im Juni dorthin kommen sollten; Karpenko wollte allerdings nur einen Monat bleiben, bevor er für den Rest der Ferien in die Ukraine zurückkehren wollte, und Rosa hatte vor, mit Peter im Juli nachzukommen.
Dimitrij war begeistert von dem Ort. Der grandiose Plan seines Onkels nahm bereits Gestalt an. Dreißig Meter vor dem alten Haus der Bobrovs entfernt stand nun ein langes, niedriges Holzgebäude, das das Museum beherbergte, und am Ende befanden sich Werkstätten. Hier hatte Vladimir
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