Russka
unerwartete Bitte. Er hatte einen Sohn, gerade zwei Jahre älter als Dimitrij, ein begabter Junge, meinte er, der in Moskau studieren wollte. »Ich dachte mir, er könnte vielleicht bei Euch wohnen«, schrieb er. »Ich käme natürlich für seinen Unterhalt auf.«
»Wir haben keinen Platz für ihn«, gab Peter nach kurzem Überlegen zu bedenken.
Doch Rosa wollte nichts von Schwierigkeiten hören. »Das schaffen wir schon«, erklärte sie und schrieb unverzüglich an Karpenko, er solle seinen Sohn nur schicken.
Michail kam Anfang September, und sofort hielt Dimitrij ihn für ein Genie.
Michail Karpenko war ein schmaler, dunkler, hübscher Junge mit blitzenden schwarzen Augen. Er kam gerade in die Pubertät. Es war wirklich erstaunlich, was er schon alles wußte. Sehr bald zeigte es sich, daß er äußerst stolz auf sein ukrainisches Erbe und seinen bekannten Vorfahren, den Dichter, war. »Ihr müßt wissen, daß es in der ukrainischen Kultur in den letzten Jahren einen großen Aufschwung gegeben hat«, erzählte er Rosa, »und ich war dabei«, meinte er großspurig. Er war fasziniert von allem, was mit Kunst und Kultur zu tun hatte, und er nahm sehr rasch neue Anregungen auf. Dimitrij nahm ihn mit zu seiner Kusine Nadeschda, und Michail wurde dort herzlich empfangen. Selbst Vladimir war von dem Jungen beeindruckt. »Du weißt wirklich erstaunlich viel, mein kleiner Kosak«, sagte er schmunzelnd. Oft setzte er sich zu den jungen Leuten, auf der einen Seite seine Tochter und Dimitrij, auf der anderen Karpenko. Er legte die Arme um sie und berichtete von Neuigkeiten in der Kunstwelt.
Es war eine aufregende Zeit in der Familie Suvorin; in diesem Jahr nämlich hatte Vladimir sich entschlossen, zusätzlich zu seinem großen Wohnhaus ein neues Haus, etwa eine Meile entfernt, zu bauen. »Ein kleines Refugium«, erklärte er lächelnd. Das war reichlich untertrieben. Nur eine Handvoll Männer auf dieser Welt hätten das gewagt, was der russische Industrielle da vorhatte. Es war nichts weniger als ein ganzes Haus im Jugendstil. Der Plan, den er Dimitrij und Karpenko zeigte, war erstaunlich. Lediglich der Baukörper war einfach – ein Quader mit einem Seiteneingang, aber jede Säule, jede Decke zeigte die wirbelnden Kurven des Jugendstils. Das Ganze hatte etwas Magisch-Pflanzenhaftes. Karpenko verglich es mit einer herrlichen Orchidee. »In unserem neuen Haus wird es die modernsten Errungenschaften geben«, erläuterte Suvorin. »Elektrisches Licht, sogar ein Telefon.« Dimitrij, seine Kusine Nadeschda und Karpenko wurden bald gute Freunde. Das hochintelligente zehnjährige Mädchen lauschte fasziniert dem hübschen Jungen mit seiner ansteckenden Begeisterung. In diesem Jahr befaßte er sich eingehend mit den neuen russischen Dichtern der Symbolistischen Richtung. Er wußte ganze Verse des brillanten jungen Alexander Blok auswendig.
Die fröhliche Vertrautheit ihrer gemeinsamen Nachmittage wurde nur gelegentlich durch die Anwesenheit eines recht ernsten Sechzehnjährigen gedämpft. Im November wurde es ihnen zum erstenmal bewußt, daß Alexander Bobrov in ihr Leben getreten war. Sein Vater war zu der Zeit gerade Abgeordneter der liberalen Kadettenpartei in Moskau für die neue konservative Duma des Zaren geworden, was für die Familie ein gewisser Trost war, nachdem sie ihre Besitzungen verloren hatten. Da Dimitrijs Vater kurz zuvor aus der Duma ausgeschlossen worden war, hegte der Junge keine sonderlich freundschaftlichen Gefühle für den anderen. Nadeschda war höflich, weil es sich um Freunde ihres Vaters handelte. Karpenko jedoch, nur zwei Jahre jünger als Alexander, machte aus seiner Ablehnung keinen Hehl.
Alexander sprach selten. Er besuchte Suvorin unter einem Vorwand, betrat mit ihm das Zimmer, sagte ein paar höfliche Worte zu Nadeschda und hörte dem Gespräch der anderen verlegen zu. Bald hatte Karpenko auch einen Spitznamen für ihn gefunden. »Seht«, flüsterte er, »da kommt der russische Kalender.« Das war ein treffender Name. Peter der Große hatte zwar den Kalender reformiert, aber er hatte das alte Julianische System für die Zählung der Tage übernommen; während das übrige Europa seither zu dem moderneren Gregorianischen System übergegangen war, hatten Rußland und seine orthodoxe Kirche am Julianischen festgehalten. Infolgedessen war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts das riesige Reich dreizehn Tage hinter dem Rest der Welt her. Der grausame Spitzname traf Alexanders konservative
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