Russka
diesem Zeitpunkt den Mongolen zugefallen, hätten sie nicht nach der Wahl eines neuen Großen Khan eine Zeitlang Ruhe eintreten lassen. Der neue Khan nämlich beschloß, sein Reich zunächst nach Westen zu festigen: Er ließ eine neue Hauptstadt, Sarai, an der südlichen Wolga errichten. Die Heerführer hatten den Befehl, abzuwarten. Auch hierin zeigte sich die politische Intelligenz der Mongolen. Sie hatten schnell die Bedeutung der Tatsache erkannt, daß Rußland orthodox war, der Westen aber katholisch. In den Tagen des Monomach hatte die Differenz zwischen Rom und der Ostkirche in liturgischen Feinheiten bestanden. Seither jedoch hatte sich die Kluft vertieft. Nun spielten Fragen der Autorität eine Hauptrolle. Waren der Patriarch von Konstantinopel oder seine Kollegen im Osten willens, sich der Autorität des Papstes zu beugen? Hatte die Ostkirche gebührendes Interesse an den Kreuzzügen des Papstes gezeigt? Als die Russen verzweifelte Appelle an ihre christlichen Brüder im Westen um Unterstützung gegen die heidnischen Mongolen richteten, herrschte dort Schweigen. So kam es, daß die Russen dem Westen zunehmend mißtrauten. Und die mongolische Führerschaft wägte klug ab, Rußland zuerst zu vereinnahmen und sicheren Bestandteil Asiens werden zu lassen. Der Westen konnte noch warten.
Sawa war ein gutaussehender Mann, von etwas überdurchschnittlicher Größe, hellhäutig, Bart- und Haupthaar waren schütter. Aus dem schmalen, regelmäßigen Gesicht blickten die blaßblauen Augen meist freundlich.
Manchmal schlug er Yanka, wenn sie nicht pariert hatte. Dann war er streng, und sie hatte Angst vor ihm. Immerhin war er, das wußte sie, weniger streng als andere Väter im Dorf. Er selbst meinte, daß er sich in früheren Jahren weniger um sie als um seinen Sohn Kiy gekümmert habe. Doch seit den schrecklichen Ereignissen während der Tatareninvasion hatte sich das geändert, und im Verlauf ihrer Wanderung wurde ihm bewußt, daß er sie hauptsächlich Yankas wegen unternommen hatte. Zuerst war, nach der schlimmen Zerstörung, eine seltsame Stille über das Dorf gekommen. Die Nachrichten vom Fall Perejaslavls und Kievs kamen, dann hörten sie nichts mehr. Auch vom Bojaren im Norden kein Wort. Es vergingen Saatzeit und Ernte in dem zerstörten Ort. Sawa tat sich mit einer handfesten, dunkelhaarigen Frau zusammen, doch er heiratete sie nicht. Sie brachte Yanka das Sticken bei. Kiy wurde ein geschickter Holzschnitzer. Und dann kam im vergangenen Herbst der große Schlag. Ein kleiner Tatarentrupp unter Führung eines Funktionärs des neuernannten Gouverneurs der Region, des baskak, marschierte im Dorf ein. Die Bewohner mußten sich in einer Reihe aufstellen und wurden gezählt, was bislang nie geschehen war. »Das ist eine Erhebung«, erfuhren sie. »Der baskak zählt jeden Kopf.« Man befand auch, daß dem Ort eine neue Bedeutung zukomme. Der Postdienst verband alle Teile des großen Khan-Reiches. Jeweils im Abstand von fünfundzwanzig Meilen befand sich eine Station, wo Pferde und Schafe für Kumyß und Fleisch gehalten wurden, ebenso auch eine Anzahl Ersatzpferde. Der baskak befand, daß sich das zerstörte Fort sehr gut alsyam, als Poststation, eigne. Ein dort stationierter Beamter würde auch das Dorf überwachen.
Zuletzt fragte der Gesandte den Dorfältesten, wer die besten Holzschnitzer am Ort seien. Er ließ sie der Reihe nach aufrufen und nahm Kiy, mit fünfzehn Jahren der Jüngste, mit. Der Große Khan hatte nach Handwerkern verlangt. Noch lange starrte Yanka an jenem Abend traurig und verzweifelt hinter der Gruppe her, die sich allmählich am Steppenhorizont verlor.
Danach führten Sawa und seine Tochter ein elendes Dasein. Die Frau hatte ihn verlassen. Einige Male hatte er versucht, seine Trauer im Alkohol zu ertränken. Das hatte dem Mädchen Angst und Schrecken eingejagt. Yanka wurde in ihrem Unglück immer dünner in jenem Winter, aß wenig, sprach kaum.
Als sich auch im Frühjahr keine Anzeichen von Besserung zeigten, wußte der Vater sich nicht mehr zu helfen. Da hörte er von einer Familie aus dem Nachbardorf, die in die nördliche Taiga ziehen wollte. Sie hatten vor, die Wolga zu überqueren und dort zu leben, wo die Menschen frei waren, ohne einen Gebieter über sich.
Das war das sogenannte Schwarze Land. Es lag zwar auf dem Territorium des Fürsten, und die Siedler zahlten eine kleine Pacht, doch je weiter man nach Norden und Osten kam, desto mehr weigerten sich die Siedler, eine Obrigkeit
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