Russka
meisten russischen Dörfer, an einem Fluß, der an dieser Stelle eine langgezogene S-Kurve machte. Das Westufer war höher als das östliche, und so bildete es eine schützende Anhöhe und stand wie ein Wall um das Grasland, das angelegt worden war. Früher hatte sich dort eine Siedlung befunden, doch mit der Zeit hatte man sie aus Gründen der Sicherheit auf die Anhöhe verlegt, wo nun ein Dutzend Holzhütten standen, umgeben von einem starken Zaun. Ein paar Gemüsefelder lagen abgeerntet daneben, und durch die Bäume hindurch sah man auf zwei armselige Äcker. Eine Kirche gab es nicht. Der nächste Ort lag einige Meilen entfernt im Südosten, ebenfalls am Flüßchen Rus. Hinter diesem Ort erhob sich ein niedriger bewaldeter Hügel, und unterhalb war Marschland. Daher nannten die ersten slawischen Siedler diese Gegend Sumpfloch, und der Name blieb. Von hier aus waren es noch einmal sieben Meilen bis zur nächsten Ansiedlung.
Die Häuser bestanden aus Holz. Lehmwände und strohgedeckte Dächer, wie Yanka sie aus dem Süden kannte, gab es hier nicht. Aber vor allem die Menschen waren ganz anders. »So still sind sie«, flüsterte sie ihrem Vater zu, als sie am ersten Morgen durch den Ort gingen. »Als wären sie erfroren.«
Die Bewohner waren von unterschiedlicher Abstammung. Bevor die Familie des Bojaren den Ort erwarb, gehörten die meisten Leute zu den Slawen des Vjatitschen-Stammes. Jetzt gab es noch sechs Familien dieser Herkunft. Außerdem lebten hier drei Familien, die eine Generation zuvor aus dem Süden gekommen waren, und schließlich die drei MordvinenFamilien, die der Bojar hergebracht hatte.
Auf Anordnung des Verwalters erschienen am Mittag sechs Männer mit Äxten. »Wir bauen euch eine Hütte.« Zusammen gingen sie ans südliche Ende des Weilers und machten sich an die Arbeit. Kleine kräftige Pferde zogen Baumstämme herbei, aus denen man fast hätte Boote fertigen können. Für das Fundament wurden dicke Eichenbohlen verwendet, für das übrige das weiche, leicht zu verarbeitende Kiefernholz.
Die Hütte wurde ähnlich der im Süden angelegt: ein Eingangskorridor in der Mitte, viel Platz zur Aufbewahrung der Gerätschaften auf der einen Seite, ein Raum auf der anderen. Der Ofen wurde aus Lehm geschichtet.
Yanka war nicht nur überrascht von der sauberen Arbeit, sondern auch von der Schnelligkeit der Leute. Sie arbeiteten ohne Unterbrechung bis in die Dämmerung. Dann brachten die Frauen Fackeln und entfachten Feuer zur besseren Sicht. Nachts war alles fertig, nur der Ofen und das Dach fehlten noch. Yanka und ihr Vater fanden in dieser Nacht Unterschlupf beim Verwalter. Am nächsten Mittag war das Werk vollendet.
So sah die Hütte des Nordens aus – die russische isba. Der überdimensionale Ofen und die festgefügten Wände brachten die Bewohner wohlig warm durch den kältesten Winter – deshalb auch die Bezeichnung isba, was soviel bedeutet wie »heißer Raum«. Nachdem sich die beiden bei den Männern bedankt hatten, führte der Verwalter sie hinaus zu dem Stück Land, das er für sie bestimmt hatte. Das Land, das zu beiden Seiten des Flüßchens lag, war von mittlerer Größe, wie der Verwalter ihnen erklärte: etwa vierhundert dessjatina, das sind ungefähr vierhundert Hektar. Nur ein Teil davon war bearbeitet.
»Milej will noch mehr Leute herbringen und etwas aus diesem Ort machen«, fuhr der Verwalter fort. »Und einen Teil des Landes will er selbst übernehmen. Wenn auch jetzt alles noch klein ist – das wird sich bald ändern.«
Sosehr ihr alles gefiel, eines störte Yanka. »Wir sind Christen. Sind denn alle Menschen hier Heiden?«
»Die Slawen aus dem Süden sind Christen«, sagte der Verwalter. »Die Mordvinen sind eben Mordvinen.« Er lachte. »Und die Vjatitschen sind zwar Slawen, aber auch Heiden.«
»Wird einmal eine Kirche gebaut?«
»Der Bojar hat es vor.«
Danach kehrte Yanka in die Hütte zurück, während Sawa und der Verwalter das Land begutachteten. Es war die übliche Parzelle des Bauern, die rund vierzehn Hektar umfaßte. Aber es war karges Waldland, das gerodet werden mußte. Dafür würde Yankas Vater nur eine kleine Pacht zu zahlen haben, im ersten Jahr überhaupt nichts. Der Verwalter wollte ihm eine geringe Summe vorstrecken, dafür, daß er leichte Arbeit für den Bojaren verrichten sollte. Für Yanka kam nun eine Zeit der Entdeckungen. Es war ein langer Sommer, die warmen Tage dauerten bis weit in den Herbst hinein, in den Altweibersommer, den die Russen
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