Russka
auf. Und viele reagierten auf diese Frage nur mit einem müden Schulterzucken. Wenn sie Milej auf ihre schlichte Art Fragen zur politischen Situation stellte, lachte er nur. Das wurde anders mit dem Abend, an dem der Bojar ein Fest gab für Männer, mit denen er Geschäfte machte. Yanka durfte dabeisein, um zu bedienen.
Es waren etwa ein Dutzend Männer, alle groß und bärtig und in kostbare Seidenkaftane gehüllt. Einige waren Bojaren, andere wohlhabende Kaufleute, zwei gehörten der mittleren Kaufmannsklasse an.
Ihren Gesprächen konnte Yanka entnehmen, wie reich und groß Novgorod tatsächlich war. Man unterhielt sich über Grundstücke, die Hunderte von Meilen entfernt in Wäldern und den Marschen des Nordostens lagen. Sie sprachen von großen Eisen- und Salzvorkommen, von riesigen Rentierherden am Rand der Tundra. Mancher Bojar besaß Land, das er noch nie gesehen hatte, und mancher bekam Felle als Tribut von Pelzjägern, die hundert Meilen zu einem Sammelplatz reisten und selber nie im Leben eine Stadt gesehen hatten. Ja, das war das Land der mächtigen, endlosen Taiga. Dann begannen die Männer über Politik zu reden, und Yanka hörte mit wachsender Aufmerksamkeit zu.
»Die Frage ist, was man gegen die Tataren unternehmen will«, fragte Milej. »Wollt ihr euch unterwerfen oder sie bekämpfen?«
»Die Situation ist heikel«, antwortete ein älterer Bojar. »Der gegenwärtige Großfürst wird sich bestimmt nicht lang halten.« Der letzte Großfürst von Vladimir, der Vater des großen Fürsten Alexander von Novgorod, war kürzlich auf dem Rückweg von einem Höflichkeitsbesuch in der Mongolei gestorben. Sein Bruder war ihm in der Herrschaft gefolgt und hatte seinen Neffen Alexander als Herrscher über Novgorod bestätigt. Der neue Großfürst wurde jedoch allgemein für schwach gehalten.
»Der wirkliche Machtkampf«, sagte ein anderer, »findet zwischen Alexander und seinem jüngeren Bruder Andrej statt.«
»In diesem Fall müssen wir Stellung beziehen«, war die Ansicht eines alten Bojaren.
»Einige von uns halten beide für Verräter«, äußerte sich ein junger Mann.
Verräter? Fürst Alexander, der tapfere Bezwinger der Schweden und der Deutschen, ein Verräter? Zu Yankas Erstaunen widersprach niemand.
»Es stimmt, daß Alexander nicht beliebt ist«, seufzte ein dicker Bojar. »Die Leute meinen, er habe die Tataren allzugern.«
»Hat er, wie es heißt, in seiner Schlacht gegen die deutschen Ritter tatsächlich Tataren als Bogenschützen eingesetzt?« fragte Milej. »Man sagt es, aber ich glaube es nicht«, erwiderte der dicke Bojar.
»Ihr müßt aber bedenken, daß man nicht nur seine Freundschaft mit den Tataren kritisiert. Es gibt genügend Leute hier in der Stadt, die am liebsten die Deutschen bei uns am Ruder sähen. Als Alexander nach Novgorod zurückkam, ließ er die Sympathisanten der Deutschen hängen. Wenn also jemand noch dieser Ansicht ist, wird er sie wohl nicht äußern.«
»Es geht das Gerücht, daß der junge Fürst Andrej heimlich die katholischen Deutschen und die Schweden begünstigt«, ließ sich der junge Kaufmann vernehmen. »Ich fürchte, daß es keinen ehrlichen russischen Fürsten gibt.«
So ging die Diskussion eine Zeitlang weiter. Schließlich wandte der dicke Bojar sich an Milej: »Nun hast du also gehört, daß wir uns nicht einig sind, was wir tun sollen; was sagt denn der Bojar aus Murom?«
Alle blickten Milej erwartungsvoll an.
»Vor allem«, begann der Angesprochene, »verstehe ich das katholische Lager. Ihr seid nahe an Schweden, Polen und an den deutschen Hansestädten. Sie alle sind katholisch und ziemlich stark. Ebenso denkt der Fürst von Galizien unten im Südwesten, er könne sich mit Hilfe des Papstes die Tataren vom Leibe halten. Das katholische Lager täuscht sich jedoch. Und warum?« Er blickte in die Runde. »Weil die Tataren viel stärker, der Papst und die katholischen Mächte unzuverlässig sind. Jedesmal wenn der Fürst von Galizien sich durchzusetzen versucht, wird er von den Tataren überwältigt.«
Es gab beifälliges Gemurmel.
»Novgorod ist mächtig«, fuhr Milej fort, »doch verglichen mit den Tataren ist Novgorod geradezu kümmerlich. Sie könnten eure Befestigungen innerhalb von Tagen schleifen, wenn sie nur wollten, wie sie es mit Vladimir, Rjazan, selbst mit Kiev gemacht haben. Ihr könnt froh sein, daß sie sich zum Rückzug entschlossen haben.«
»Die Tataren werden untergehen wie die Avaren, die Hunnen, die Petschenegen und die
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