Russka
es fein geschnitzten Zierat aus Knochen und Rentiergeweih aus den nördlichen Wäldern und auch Walroßzähne. Und natürlich waren da die Ikonen. Es gab Gewürze, die für den Westen bestimmt waren, und Kämme, jede Art von Perlen und glänzende Seide aus dem alten Konstantinopel, die sich wunderbar anfühlte. Als Yanka einem Mann zusah, wie er einen Stapel gestempelter Eichhörnchenfelle zählte, die auch in Novgorod als Kleingeld dienten, sah sie, daß er sich Notizen auf eine kleine Wachstafel machte. Milej tat das auch, aber dies hier war ein ganz gewöhnlicher kleiner Kaufmann. Sie ging weiter zu den anderen Ständen. Auch hier hatten die Händler, sogar die Handwerker oft Wachstäfelchen oder kleine Stücke von Birkenrinde, auf die sie schrieben oder etwas zeichneten.
»Kannst du auch lesen und schreiben?« fragte sie eine Fischverkäuferin.
»Ja, mein Täubchen. Die meisten Leute hier können es«, war die Antwort. Yanka war tief beeindruckt. In Russka konnte das niemand. Als sie sich auf dem weiten Platz umsah, auf dem auch das vetsche zusammentrat, bekam sie allmählich eine Vorstellung von der zielstrebigen, kühnen Macht des baltischen Nordens. In dieser Nacht lud Milej sie im Gasthaus ein, mit ihm allein zu essen. Er war in bester Stimmung. Die Geschäfte waren offenbar gut gegangen.
Yanka hatte noch nie so köstlich gegessen: Fisch, Wild, Delikatessen und Süßigkeiten. Auch eine Schale mit glänzendem Rogen wurde vor sie hingestellt. »Was ist denn das?« fragte sie. »Kaviar«, lächelte Milej, »von einem Flußbarsch. Probiere ihn.« Sie hatte zwar gehört, daß Kaviar vom Flußbarsch, Stör und anderen Fischen kam, aber gekostet hatte sie ihn nie. Das war die Speise der Bojaren. Milej schenkte ihr häufig Met nach und sah mit Vergnügen, wie ihr Gesicht sich allmählich rötete. Schließlich öffnete sich die Tür, und ein schmächtiger alter Mann sah fragend herein. Der Bojar forderte ihn auf einzutreten. Es war ein Spielmann, ein skazitel. Er trug ein gusli, ein dreiseitiges Zupfinstrument, und sang zwei Lieder, eines aus dem Süden, eines aus dem Norden. »Das erste«, er lächelte verlegen, »habe ich selbst gemacht. Es heißt ›Fürst Igor‹.«
Yanka lächelte. In ihrer Kindheit hatte sie einige Geschichten über den edlen Igor gehört, einen Fürsten aus dem Süden, der einen harten Kampf gegen die Kumanen aus der Steppe geführt hatte. Das kühne Unternehmen war erfolglos, und Fürst Igor fand den Tod. Jeder Russe kannte diese Geschichte.
Die Botschaft des Liedes war schlicht: Wären die russischen Fürsten vereinigt, könnten ihnen die Männer der Steppe nichts anhaben. Das trifft, dachte Yanka, auch auf den Einfall der Tataren zu. Sie sah, daß Milej gedankenversunken in die Ferne blickte. Hatten nicht seine eigenen Vorfahren, die Rus und die Kumanen, auf der Steppe gegeneinander gefochten?
Doch dann holte Milej aus einem Ledersack einen kleinen Stoffballen und legte ihn auf den Tisch. Es war feinste orientalische Seide. »Ein Geschenk für dich«, sagte er zu Yanka. Und den Spielmann forderte er auf: »Singe jetzt das andere Lied!« Es war das Lied vom reichen Kaufmann Sadko aus Novgorod, gewissermaßen die russische Version der Orpheus-Sage: Der singende Kaufmann bezaubert den finnischen Meergott in seinem Palast auf dem Meeresgrund und kann wieder ins Leben zurückkehren. Das Lied erinnerte an den Kaufmann, der in Novgorod gelebt hatte.
Yanka lag zu Milejs Füßen und ließ die weiche schimmernde Seide durch die Finger gleiten. Sein Kaftan stand am Hals offen. Sie blickte auf das helle lockige Haar auf Milejs Brust und auf die kleine Metallscheibe an einer Kette, die den dreizackigen tamga seines Clans eingeritzt trug. Sie blickte ihn lächelnd an, bis auch er schließlich lächelte und den Spielmann mit einer Handbewegung fortschickte.
Yanka gab sich dem Bojaren in dieser Nacht ganz hin. Alles war gut, so wie es war. Danach hatte sie das Gefühl, daß etwas in ihr sich weiter als sonst geöffnet habe und daß sie mit Sadko im Palast auf dem Grund des Meeres gewesen sei.
Yanka fragte häufig, ob sie den großen Fürsten Alexander einmal sehen würden. Sie hatte nie vergessen, was ihr Bruder von diesem Fürsten von Novgorod erzählt hatte, der die bösen Schweden und die deutschen Ritter in die Flucht geschlagen hatte. Aber niemand gab ihr eine klare Antwort. Manche sagten, er sei wohl in seiner Residenz flußabwärts, andere meinten, er halte sich in einer benachbarten Stadt
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