Ruth
des
Kamosch.“
„Ich verstehe nicht.“
„Du wirst es verstehen, wenn du
es siehst“, versicherte sie ihm.
„Machlon!“ Es war Noëmis
Stimme.
„Ja, Mutter.“
„Komm und hilf mir, deinen
Vater ins Zelt zu bringen. Es wird kalt.“
„Ich komme“, rief Machlon
zurück. „Friede sei mit dir, Ruth von Moab“, sagte er hastig.
„Und auch mit dir, Machlon von
Israel.“ Sie blickte seiner großen Gestalt nach, als er durch den Fluß watete
und stehenblieb, um seine Sandalen anzulegen, bevor er durch die Dunkelheit dem
Zelt seines Vaters entgegenging.
5
Boas’ Schmerz war mehr als die
Trauer eines Mannes um seine Frau. Seit Monaten hatte er gespürt, daß Tamar
nicht glücklich war. Aber er hatte nicht gewußt, wie er ihren Augen den Glanz
zurückgeben konnte, den er in den ersten Wochen ihrer Ehe so bewundert hatte.
Oder ihren Wangen die warme Röte, die sie überzogen hatte, wenn er am Abend
nach Hause gekommen war, müde von der Ausbildung der Truppen, mit denen er
hoffte, wenigstens seinen eigenen Stamm Juda vor den raubgierigen Moabitern im
Osten auf der anderen Seite des Jordans zu schützen.
Vielleicht war dies von Anfang
an sein Fehler gewesen. Wenn ihn der verzweifelte Versuch, ein
selbstzufriedenes und unkriegerisches Volk zu bewaffnen, nicht so sehr in
Anspruch genommen hätte, vielleicht hätte er dann Tamar die Zeit widmen können,
die sie benötigte. Sie waren zusammen mit Machlon, Kiljon und Joseph
aufgewachsen. Aber Boas war immer der Älteste und als Anführer ihrer kindlichen
Spiele immer der Stärkste gewesen, der die Braut gewonnen hatte. Die Braut war
stets Tamar gewesen, Tamar mit dem dunklen Haar und den blitzenden Augen, Tamar
von schlanker und lieblicher Gestalt. Und so waren sie in die Ehe geglitten, so
natürlich, wie sie die kindlichen Freuden ihrer Spiele aufgegeben hatten.
Von Anfang an war er jedoch
unfähig gewesen, die Fröhlichkeit, die Offenheit und die Wärme, die Tamar
besessen hatte, ganz zu teilen. Selbst beim Fest der Getreideernte, wenn die
Spreu vom Korn ; getrennt, das Getreide in Säcke gefüllt, das Festmahl verzehrt
und jeder freudig und vom Feuer des Weins erfüllt war, hatte er es nicht über
sich gebracht, sich frei ihrer Umarmung hinzugeben — obwohl die anderen um sie
herum an diesem traditionellen Fest sich einander ohne Hemmung hingaben, da die
Schranken des geregelten ‘ Lebens für diese eine Nacht im Jahr aufgehoben und die
Mädchen ; frei waren, ihre Männer zu wählen, deren Gewänder sie bis zumj Morgen
bedecken würden.
Er stöhnte auf bei der
Erinnerung an das Gefühl der Leere in... seinem Herzen, das ihn überfallen
hatte, als er vor zwei Tagen nach Hause gekommen war und gesehen hatte, daß sie
gegangen war. Aber wieder packte ihn Zorn, der selbst seinen Schmerz übertraf,
bei dem Gedanken daran, daß sie einen verhaßten Moabiter gewählt hatte, um ihn
zu betrügen.
Tamar verdiente den Tod,
versicherte er sich selbst zum hundertsten Male, seit er sich auf diesem Stein
am Flußufer niedergelassen hatte, um über sein Unglück und seinen Zorn zu
grübeln. Sie hätte die Steinigung verdient, mit der sie bestraft worden wäre, ‘
wenn er sie lebend angetroffen und zurückgebracht hätte, damit sie i gerichtet
würde, wie es das Gesetz befahl. Der Gott, zu dem er betete, der Allerhöchste,
dessen Wort Gesetz war und dessen Gebote bedingungslos befolgt werden mußten,
hatte klar zum Ausdruck gebracht, daß die Strafe für Ehebruch der Tod war.
Während er auf das langsam und
dunkel vorüberfließende Wasser blickte, nahm das Bild Tamars, wie sie
gesteinigt wurde, darin Gestalt an. Er sah sich selbst den ersten Stein werfen,
wie es die Pflicht des Betrogenen war, und sein Schmerz wurde beinahe unerträglich.
Trotz seines Zorns erkannte er zum ersten Mal, daß man die Liebe nicht mit
harten und unumstößlichen Vorschriften einengen konnte, daß unter ihrem Einfluß
selbst die Verkündigungen vom Berg Sinai manchmal gemildert werden konnten.
Doch sein strenges israelitisches
Gewissen beharrte darauf, daß schon dieser Gedanke allein Sünde war. Denn
sagten die von Mose übermittelten Gebote des Allerhöchsten nicht eindeutig aus,
daß sein Volk keine anderen Götter haben durfte? Und die Verleugnung nur eines
göttlichen Gebots kam einer Verleugnung des Gottes gleich, der sie ihnen
gegeben hatte.
In seinem Kummer und seiner
Scham hörte Boas nicht, daß Ruth durch den Fluß watete. Als sie an einen
kleinen Stein
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