Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
willkommen war, und nachher sollte es dann weitergehen, per Auto nach Hamburg. Da wurde der Wagen abgestellt, und Bernhard wollte dann mit den Eltern per Flugzeug in die Schweiz.
Er hatte mir sehr liebe Worte ins Ohr geflüstert, und ganz zuletzt hatte er mir ein kleines Päckchen in die Hand gesteckt. „Aber erst am vierundzwanzigsten aufmachen!“ sagte er streng. „Ehrenwort!“ versprach ich.
Es war schön, an Bernhard zu denken. Ich zählte die Tage an den Fingern ab: Acht - neun - zehn - elf. ja, in elf Tagen würde ich ihn wiedersehen!
Ich guckte wieder auf die Uhr. Beinahe vierzehn Uhr. Jetzt war Frau von Waldenburg bestimmt schon am Bahnhof.
Ich stieg aus der Bahn und ging mit meinem Koffer zur Bushaltestelle.
Ein langer, trostloser Vormittag war zu Ende. Ich konnte jetzt zurück in meine Bude.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, ganz allein im Haus zu sein. Ich schloß die Tür sorgfältig hinter mir und stellte den lästigen Koffer ab. Dann ging ich in den Keller und drehte die Heizung höher. Als nächstes zur Zähluhr, um den Stand aufzuschreiben, damit ich nachher wußte, wieviel Strom ich verbraucht hatte.
Es war schön, die nassen Sachen auszuziehen und in eine lange Hose und einen molligen Pulli zu schlüpfen.
Und jetzt? Was sollte ich jetzt machen?
Ja, natürlich: All meine norwegischen Fressalien in den Kühlschrank stellen, und das bißchen, was ich selbst eingekauft hatte: Ein halbes Pfund Margarine und eine Milchdose. Ein Paket Scheibenbrot und ein Viertelpfund Kaffee kamen in die Brotdose und in den Küchenschrank.
Da lag unser Eierwärmer, noch säuberlich in Seidenpapier eingewickelt. Wie hatte Frau von Waldenburg sich darüber gefreut! Zuerst hatte sie geschimpft, aber als wir dann erzählten, daß das Ding wirklich keinen Pfennig gekostet hatte, war sie nur froh und gerührt gewesen.
Wie war es still und leer im Haus.
Eigentlich hatte ich Hunger. Ich hatte seit heute früh nichts gegessen. Ich packte die Brote aus, die die liebe Frau von Waldenburg mir „für die Reise“ mitgegeben hatte. „Warum sollen Sie in der Cafeteria an Bord Geld ausgeben“, hatte sie lächelnd
gesagt.
Also aß ich die Reisebrote und machte mir dazu eine Tasse Kaffee.
Wie war ich allein. Schrecklich, furchtbar allein. Das Alleinsein, das war etwas, das ich nicht gelernt hatte. Mein Leben lang hatte ich Menschen um mich gehabt.
Wenn ich bloß Radio hören könnte! Aber das Wohnzimmer, wo Fernsehen und Rundfunkgerät standen, war abgeschlossen, ebenso das Eßzimmer und Frau von Waldenburgs Schlafzimmer und oben diese komische Zwischentür in dem Korridor.
Ans Telefon konnte ich auch nicht.
Dann holte ich die letzten Sachen aus dem Karton von Beate und legte die kleinen Päckchen in Weihnachtspapier in eine Schublade. Oh, da war ja auch eine Keksdose! Die liebe Beate! Eine Dose voll ihrer berühmten „Familien-Schürzkuchen“!
Da war zusammengeknülltes Zeitungspapier als Polsterung. Ich glättete das Papier und machte eine wunderbare Entdeckung: Auf einem der Papierfetzen - einem ganz großen - war ein großes, ungelöstes Kreuzworträtsel!
Dann ging ich zu Bett, mit Rätsel und Bleistift. Es war eine ganz ausgesucht schwere Aufgabe!
Sie war so schwer, daß sie für eine Weile all meine Gedanken in Anspruch nahm. Zuletzt wurde ich ganz einfach schläfrig, und dann schlief ich ein, den Bleistift in der Hand.
Es war stockfinster, als ich aufwachte und auf die Uhr guckte. Ich traute meinen Augen nicht. Beinahe elf! Elf Uhr abends!
Ich war ausgeschlafen und konnte bestimmt nicht wieder einschlafen.
Ich zog mich aus, ging rüber in den Waschraum und machte mich zurecht.
Diese Stille, diese Einsamkeit sollte ich nun zehn Tage aushalten!
Ich zog das Rollo runter und die Vorhänge vor. Niemand sollte wissen, daß das Haus doch bewohnt war. Ich wohnte ja „schwarz“.
Wenn ich bloß etwas zum Lesen gehabt hätte!
Aber ich hatte nur meine Lehrbücher und dann die Briefe von zu Hause. Ich wählte die Briefe, saß im Bett und las all die guten, lieben Worte von den Eltern und von Beate. Dann stellte ich mir vor, wie es jetzt zu Hause sein würde. Bald Mitternacht - ach, am dreiundzwanzigsten war Mutti immer lange auf, sie hatte so viel zu tun! Vielleicht war sie noch beim Baumputzen. Oder vielleicht saßen
sie und Vati mit Olav und Tanja zusammen bei einer ganz
unvernünftigen Tasse Kaffee und Kostproben vom
Weihnachtsgebäck.
Ich machte die Augen zu, und
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