Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
Kaschmir-Pullover, mit einem Auto, mit einem schönen Hund. Eine Studentin, die Fußböden aufwischen und bohnern mußte, um Geld für das allernotwendigste Essen über Weihnachten zu beschaffen.
Ich war froh, daß ich Bernhard in dem Glauben gelassen hatte, ich führe nach Hause. Um alles auf der Welt wollte ich nicht riskieren, daß er mir das Reisegeld anbot.
Aber leicht war es nicht. Ich mußte wieder schlucken.
Werde bloß nicht sentimental, Heidi! sagte ich streng zu mir selbst. Du hast tausend Gründe, dich zu freuen! Du hast viele Menschen, die du liebst und die dich lieben! Du darfst studieren, und du hast die allerschönste Studentenbude bei dem liebsten Menschen in ganz Norddeutschland! Und du hast einen Freund. Einen lieben, netten Freund. Einen, den du in zwölf Stunden wieder treffen wirst!
Der Gedanke war so schön, daß ich gar nicht zum Lesen kam. Ich stopfte das Buch in die Tasche, und kurz danach waren wir an meiner Haltestelle.
Es war ein Paket für mich gekommen. Ein großes, schweres Paket aus Norwegen. Ich erkannte Sentas Schrift auf dem Adreßzettel. Dann hatte wohl die ganze Familie ihre Weihnachtsgeschenke an mich zusammengepackt, und Senta war damit zur Post gefahren.
Wie sollte ich erklären, daß ich aus Norwegen ein Paket so kurz vor Weihnachten bekam?
„Oh“, sagte ich, als ich das Paket an mich nahm. „Das sind die Bücher von Rolf!“
„Von Sentas Mann?“ fragte Frau von Waldenburg.
„Ja, der liebe Kerl borgt mir ja all seine Lehrbücher, er hat ja auch in Deutschland studiert, wissen Sie!“
„Und ob ich das weiß! Ich kenne ihn ja gut, er ist öfters hier gewesen. Was für ein Glück für Sie, Heidi, daß Sie all die teuren Bücher nicht zu kaufen brauchen!“
Sie hätte nur die „Bücher“ sehen sollen, die ich hinter verschlossener Tür in meinem Zimmer auspackte! Eine große norwegische Schafswurst, himmlisch, jetzt hatte ich jedenfalls Brotaufschnitt - ein Pfund Ziegenkäse, etliche Dosen norwegische Sardinen, und ein Konservenglas voll Beates Spezialität, Lamm in Aspik. Alles lauter haltbare Sachen. Und dann mehrere kleine Päckchen in Weihnachtspapier, alle mit der Aufschrift „Nicht vor Weihnachten aufmachen“.
Wenn sie nur wüßten, wie willkommen die Fressalien waren! Dabei ahnte ich, was in dem zu erwartenden Brief stehen würde: „Du kriegst bestimmt ein herrliches Weihnachtsessen bei der lieben Frau von Waldenburg, aber dann kannst du ja deinerseits ein paar norwegische Spezialitäten auf den Tisch stellen.“
(Das stimmte übrigens. Genau das stand in dem Brief, den ich ein paar Tage später bekam.)
Also, das mit dem „Bücherpaket“ war meine erste Lüge.
Die zweite folgte am Mittwoch. Da mußte ich direkt von der Uni zur Praxis laufen, denn mittwochs hatte Frau Dr. Schönhagen keine Nachmittagssprechstunde. Also mußte ich Frau von Waldenburg sagen, daß ich zu spät zum Mittag kommen würde. Gewöhnlich fragte sie nicht, aber diesmal rutschte es aus ihr heraus: „Nanu, was haben Sie denn vor?“
„Ich gebe einer Kommilitonin Unterricht in Norwegisch, sie fährt in den Semesterferien nach Norwegen.“
Wie glatt rutschte mir doch die Lüge über die Lippen! „Ich stelle das Essen in den Wärmeraum im Herd, dann können Sie es holen, wann Sie wollen“, sagte Frau von Waldenburg freundlich.
Ich wollte ihr ja nicht erzählen, daß ich einen Job hatte. Sie hatte dies alles auf sich genommen, um drei Mädchen die Gelegenheit zu geben, sich hundertprozentig auf das Studium zu konzentrieren. Es würde ihr leid tun, wenn sie gewußt hätte, daß ich mit Scheuereimern und Bohnermaschine rumhantierte. Und wie hätte ich erklären sollen, daß ich plötzlich Geld brauchte? Auch Bernhard gegenüber mußte ich lügen.
„Wann kommst du zurück aus Norwegen?“ fragte er. „Wahrscheinlich am dritten Januar“, log ich.
„Fein! Da sind wir auch zurück, und ich hole dich am Schiff ab! Ich freue mich schon darauf!“
„Ach weißt du, ich komme wahrscheinlich per Auto. Mein Onkel hat in Deutschland geschäftlich zu tun, und dann nimmt er mich mit in seinem Wagen.“
Lügen über Lügen. Ich hatte keinen Onkel, der nach Deutschland wollte, und einen mit Auto erst recht nicht!
Aber nach Weihnachten wollte ich alles beichten. Sowohl Bernhard als auch Frau von Waldenburg. Sie würden schimpfen -aber sie würden mich verstehen, und sie würden mir nicht böse sein.
Abgesehen von diesen Lügen, die ich nun beinahe täglich von mir gab, waren die
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