Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
„Frohe Weihnachten“ trafen.
„Was machen sie jetzt bei dir zu Hause?“ fragte Xenia am Frühstückstisch.
Da mußte ich lachen.
„Du wirst es mir nicht glauben, aber Tatsache ist, daß ich noch nicht dazugekommen bin, daran zu denken! Ich denke nur noch an das, was du mir heute nacht erzählt hast!“
„Ich habe mir auch Vorwürfe gemacht“, gestand Xenia. „Daß ich dir gerade an einem Heiligen Abend die ganze, häßliche Geschichte erzählt habe!“
„Vorwürfe!“ rief ich. „Ich hätte um nichts auf der Welt den Abend und deine Erzählung entbehren wollen! Du ahnst nicht, was du mir dadurch gegeben hast! Du hast mich zum Nachdenken gebracht, und du hast mir etwas geschenkt, worüber ich gar nicht dankbar genug sein kann: dein Vertrauen! Du, die stille, schweigsame, beinahe rätselhafte Xenia - du hast so offen mit mir geredet wie kein anderer Mensch! Eins verspreche ich dir übrigens: Ich werde nichts, kein Wort davon weitererzählen, es sei denn, du würdest es mir ausdrücklich erlauben. Ich frage mich nur, wie kamst du dazu, mir so ein Vertrauen zu schenken?“ Xenia lächelte.
„Das ist doch einfach. Du hattest mir gesagt, daß du mich gern als Freundin haben möchtest, nebenbei gesagt, habe ich das zum erstenmal in meinem Leben gehört. Dann solltest du auch alles über mich wissen. Siehst du, ich wollte ja die ganze Zeit auch dich als Freundin haben. so furchtbar gern.“
„Das hast du aber nie gezeigt!“
„Ich wagte es nicht. Ich, die unehelich Geborene, die Verfolgte, die Geächtete, die ,Hexe’, wie sollte ich es wagen, einem Mädchen aus einem so guten Elternhaus, aus so geordneten Verhältnissen, meine Freundschaft anzubieten?“
„Schäme dich, Xenia. Wie kannst du so schlecht über dich denken? Mir ist es doch schnurzpiepegal.“
Ich wurde von Xenias hellem Lachen unterbrochen.
„Heidi, du kannst aber gut Deutsch! Wo in aller Welt hast du den Ausdruck gelernt?“
„Schnurzpiepegal? Ach, von meiner Nichte. Von Senta. Aber du darfst mich nicht unterbrechen. Ich wollte sagen, mir ist es also schnurz‘. und so weiter, wie und wo und warum du geboren bist, und was blöde Menschen über dich gedacht haben! Nur eins kann ich nicht verstehen.“
Xenia nickte.
„Ich weiß, was du sagen willst. Warum ich dann so abscheulich zu dir war, als du damals das Anklopfen vergessen hattest.“
„Ja, gerade daran dachte ich.“
„Verstehst du das nicht? Ich war wohl neidisch, ganz einfach neidisch, ich war verbittert. Du hattest so fröhlich von deinen Eltern erzählt, von deiner einmaligen Mutter. dann kamst du zu mir hereingeplatzt, gerade als ich. sag mal, hast du eigentlich gesehen, womit ich beschäftigt war, als du kamst?“
„Ja. Ich habe es gesehen. Ich kann nur eins nicht begreifen, warum du nicht gleich Frau von Waldenburg gesagt hast: ,Ach, wenn Sie die Strumpfhose wegwerfen wollen, geben Sie sie doch lieber mir, ich kann sie verwerten.’ Das wäre doch viel einfacher, als.“
„. als sie aus der Mülltonne zu holen, bestimmt. Aber siehst du, in all der schrecklichen Zeit habe ich niemals jemanden um etwas gebeten. außer die Frau am Bahnhof, die mir den Brief einsteckte. Ich habe nichts geschenkt bekommen. Ich wollte keine Bettlerin sein, und ich wollte kein Mitleid haben!“
„Das verstehe ich. Aber übertreibst du nicht ein wenig, Xenia? Zum Beispiel was diese Strumpfhose betrifft?“
„Hättest du an meiner Stelle gefragt?“
„O sicher! Ich bin es gewohnt, Kleidung zu erben und jedes halbwegs brauchbare Stück zu verwerten.“
„Kleidung zu erben“, wiederholte Xenia. Sie warf einen Blick auf ihren eigenen hübschen grünen Pulli. „Weißt du, woher ich diesen Pulli habe, Heidi?“
„Wie sollte ich das wissen?“
„Du kannst es auch nicht erraten. Ich habe ihn halbwegs geklaut, halbwegs gekriegt. Ich habe bei einer Altkleidersammlung einen Sack geklaut, den man an Sammeltagen an den Straßenrand stellt, weißt du. Mitten in der Nacht habe ich ihn geklaut und ihn mitgeschleppt in die Gartenlaube, wo ich damals schwarz wohnte. Da fand ich diesen Pulli, und ich fand Unterwäsche und. das allerbeste, ein Paar brauchbare Schuhe, nur eine Nummer zu groß. Die habe ich noch. Oh, es ist unwahrscheinlich, was die Leute so wegwerfen! Das zweitemal hatte ich nicht soviel Glück, da waren lauter Männersachen drin, aber ich habe jedenfalls ein warmes Halstuch gefunden und eine viel zu große Strickjacke, die übrigens meine Rettung wurde.“
„Du sagst
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