Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
spiele, sie schenkten mir Vertrauen. Wenn ich nicht die Kinder und die Tiere gehabt hätte.“
Xenia schwieg. Sie guckte auf die Uhr.
„Es ist furchtbar spät geworden, Heidi.“
„Bist du müde?“
„Keine Spur. Bist du’s?“
„Überhaupt nicht. Erzähl bitte weiter.“
„Willst du wirklich mehr hören?“
„Ja, Xenia. Ich möchte alles hören.“
„Aber was jetzt kommt, ist nicht schön.“
„Ich möchte es trotzdem hören.“
„Na gut. Also. ach Heidi, können wir uns nicht eine Tasse Kaffee machen?“
„Mach ich. Bleib du sitzen.“
Ich brachte den Kaffee. Als ich ins Zimmer trat, saß Xenia und starrte auf das Bild meiner Mutter.
„Glaubst du, daß deine Mutter mich verstehen würde, Heidi?“ „Sicher. Meine Mutter versteht alle Menschen.“
„Tust du es auch?“
„Ich versuche es. Ich bin ja schließlich die Tochter meiner Mutter.“
Xenia trank einen Schluck von dem starken, heißen Kaffee. Dann sprach sie weiter.
„Das Geld von meinem Vater reichte gerade noch, daß ich das Abitur machen konnte. Ich hatte das beste Resultat in der Schule. Im Dorf sagte irgend jemand: ,Das geht nicht mit rechten Dingen zu!’ Dieser Satz wurde mir zum Verhängnis. Heidi, hast du eine Ahnung, wie in einem Dorf geklatscht werden kann? In einem abgelegenen Dorf, wo der Aberglaube die wildesten Blüten treibt?
Nun, ich war an das Dorf gebunden. Mein Onkel sagte mir unverblümt, es sei an der Zeit, daß ich endlich etwas zu Hause täte, ich müsse fürs Wohnen und Essen etwas leisten. Denn, wie gesagt, mein Geld war alle. Und ich war noch nicht mündig. Dann faßte ich im stillen den Plan, eine Zeit noch auszuhalten, dann wollte ich in der Stadt eine Arbeit suchen, ganz egal was, nur daß ich Geld verdienen konnte und mir etwas fürs Studium zusammensparen. Ich wollte Lehrerin werden und nichts anderes auf der Welt! Ich sehnte mich zurück nach der Schule, die mir soviel gegeben hatte, ich wollte zurück in das Schulmilieu. Außerdem liebe ich Kinder und könnte mir nichts Schöneres denken, als solche kleinen Schulanfänger oder vielleicht auch größere, dazu zu bringen, mit Lust und Liebe zu lernen.
Dann schuftete ich also, in meinem sogenannten Zuhause. Wenn ich beim Dorfkrämer war oder am Postamt oder nur auf der Straße, merkte ich, daß die Leute sich nach mir umdrehten und tuschelten. Ich dachte, es ging wohl um meine Haare oder um meine Geburt, oder vielleicht um mein Abitur. Aber ich sollte bald was anderes erfahren.
Ich war es gewohnt, daß Hunde, Katzen und vor allem Kinder meine Gesellschaft suchten. Eines Tages stand ich und streichelte den Hund des Nachbarn. Am folgenden Tag erkrankte das Tier und starb. Dann hörte ich zum erstenmal das schreckliche Wort, das sich wie ein Fluch über mein Dasein gelegt hat: ,Sie hat das Tier verhext! Sie ist eine Hexe!’“
Hier mußte ich Xenia unterbrechen. Ich guckte sie entsetzt an. „Entschuldige, Xenia, aber jetzt glaube ich, hapert es mit meinen deutschen Sprachkenntnissen! Das Wort Hexe kenne ich nur aus den Märchen, so wie die Hexe in ,Hänsel und Gretel’. Ja, und aus der Geschichte des Mittelalters, als Frauen manchmal für Hexen gehalten und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Bedeutet das Wort auf deutsch etwas anderes?“
„Nein. Genau das, was du sagst.“
„Aber Xenia, es gibt doch wohl heute, im zwanzigsten Jahrhundert, keinen Menschen, der an Hexen glaubt!“
„Hast du eine Ahnung! Es gibt noch heute abgelegene Dörfer, wo man es tut, Dörfer, wo man den ,Hexenmeister’ kommen läßt, um die bösen Geister auszutreiben. sollte ich dir alles erzählen, was ich darüber weiß, ich würde bis Ostern reden. Also, im Dorf hielten sie mich für eine Hexe, und sie machten mir das Leben zur Hölle! Wenn ein Kind zu mir hinlief, wurde es zurückgerissen, bekam womöglich eine Ohrfeige, und es hieß ,rühr nicht die Hexe an!’ Alles was an Unheil im Dorf passierte, wurde mir in die Schuhe geschoben. Als eine Scheune niederbrannte, konnte gleich jemand erzählen, man hätte mich am Abend vorher gerade an dieser Scheune gesehen. Wenn ein Tier erkrankte, wenn etwas kaputtging, wenn ein Kind hinfiel und mit einer Schürfwunde heulend nach Hause kam. immer war es ,die Hexe’.
Und was konnte ich tun? Nur arbeiten, ganz toll arbeiten, und dadurch beweisen, daß ich ein nützlicher Mensch war. Aber das war auch verkehrt. Wenn ich eine Arbeit doppelt so schnell schaffte wie eine andere, da hieß es gleich ,Kunststück, sie
Weitere Kostenlose Bücher