Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
Park Unkraut gejätet, ich bin bei einem Kaufmann Laufmädchen gewesen, und immer habe ich Geld gespart, gespart und gespart!
Die beste Zeit hatte ich bei einer alten, einsamen Frau. Ich machte ihre Besorgungen und hielt ihre Wohnung - ein Zimmer und Küche - sauber. Da durfte ich in der Küche schlafen. Ich konnte ja kein Geld von ihr nehmen, das verdiente ich durch Servieren in einer Kneipe, abends. Und immer zählte ich Monate und Tage, bis zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag! Dann würde ich mündig sein, dann konnte ich mein Leben in Ordnung bringen und nicht wie eine Geächtete immer von Ort zu Ort flüchten. Damals hatten wir noch nicht das Gesetz, mit 18 Jahren volljährig zu sein. Ach, wenn das Gesetz nur eher gekommen wäre!“ Xenia leerte ihre Kaffeetasse. Dann sprach sie weiter: „Meine gute alte Frau kam ins Krankenhaus und starb. Und ich. ach, warum soll ich dich mit Einzelheiten plagen? Ich habe im Winter in einer verlassenen Gartenlaube schwarz gewohnt und mich halbtot gefroren. Ich habe Nächte in Bahnhofs-Wartesälen verbracht. Und immer die Tage gezählt!
Einmal traf ich eine furchtbar nette Frau in einem solchen Wartezimmer. Sie hatte den Zuganschluß nicht gekriegt und mußte drei Stunden warten, mit zwei übermüdeten und dementsprechend unmöglichen Kindern. Ich half ihr, auf die Kinder aufzupassen und sie zu beschäftigen. Wir kamen so ins Plaudern, und sie erzählte mir, daß sie in die Schweiz fahren wollte. Ich bat sie, dort einen Brief einzustecken. Dann schrieb ich an den Onkel und die Tante. Ganz kurz. Schrieb nur, daß sie sich keine Sorgen um mich machen sollten, ich hätte Arbeit, und es ginge mir gut. Fertig. Die nette Dame behauptete, die Schweizer Briefmarke, die sie für mich kaufen wollte, wäre ein sehr niedriges Honorar für beinahe drei Stunden Kinderhüten!
Es war mir eine Erleichterung zu wissen, daß sie da im Dorf jetzt glauben würden, ich hätte mich in die Schweiz abgesetzt.
Nun ja, der Rest ist schnell erzählt. Ich arbeitete mich durch bis nach Kiel, und dort bekam ich Jessica zu fassen. Ich erzählte ihr ein ganz klein wenig von dem, was ich dir erzählt habe. Dann hat sie mir geholfen. Inzwischen hatte ich endlich die ersehnten einundzwanzig Jahre erreicht! Durch eine Zeitungsanzeige bekam ich den Ferienjob in Niedersachsen, und von dort kam ich hierher.“
Xenia schwieg. Es dauerte auch lange, bis ich Worte fand.
„Xenia“, sagte ich zuletzt, „weißt du, es ist mir unfaßbar, wie du durchgehalten hast! Wo in aller Welt hast du die Stärke geholt?“ Xenia lächelte. Ein kleines, müdes Lächeln.
„Ich habe einmal einen Spruch gelesen, der sich in meinem Kopf festgebissen hat. ,Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.’ Wenn es mir am allerschlechtesten ging, sagte ich mir selbst: ,Dies bringt dich nicht um, Xenia! Es darf dich nicht umbringen! Es macht dich stark, vergiß das nicht!’ Siehst du, Heidi. Ich bin hart und unausstehlich und mißtrauisch geworden. Und bis jetzt habe ich immer nur Schlechtes von meinen Mitmenschen geglaubt. Aber, ich bin stark geworden! Nichts darf mich umbringen, alles soll mir helfen, immer stärker zu werden!“
Ich stand auf, ging hin zu Xenia, legte meine Arme um ihren Hals und küßte ihre Wange. Sie sah mich an und sprach ganz leise: „Willst du mich noch als Freundin haben, Heidi?“
„Und ob ich das will! Ob ich es will! Jetzt mehr denn je! Liebe, tapfere Xenia! Ich bin stolz, daß ich mich deine Freundin nennen darf!“
Ein Brief aus England
Ich schlief nicht viel in dieser Weihnachtsnacht.
Immer hörte ich Xenias Stimme in den Ohren, immer sah ich ihr Gesicht vor mir, wie sie dasaß und sprach und sprach. Ich fühlte mich so lächerlich, ich, mit meinem ereignislosen kleinen Leben, mit meinem gutbürgerlichen Zuhause, ich mit dem Schutz guter Eltern. was war ich eigentlich? Ein bodenlos naives, oberflächliches Mädchen mit einem winzigen Horizont. Was wußte ich von der Welt, was wußte ich über die Schwierigkeiten, die Probleme, die Kämpfe anderer Menschen? Meine lächerlichen kleinen Geldsorgen schrumpften zu einem Nichts zusammen. Ich mußte mich immer wieder fragen: Wie wäre ich mit einem solchen Schicksal wie Xenias fertiggeworden? Mich hätte es nicht stärker gemacht. Mich hätte es umgebracht.
Ich schlief erst im Morgengrauen ein und wachte entsprechend spät auf. Xenia war es wohl auch so ergangen, denn es war beinahe zehn Uhr, als wir uns in der Küche mit einem gegenseitigen
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