Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
steht mit dem Teufel im Bunde! Sie ist eine Hexe!’
Ein Jahr habe ich ausgehalten. Ich hatte versucht, mit meinem Onkel zu sprechen, seine Zustimmung zu kriegen, daß ich mich in der Stadt nach einer Arbeit umsehe. Aber trotz all der Unannehmlichkeiten, die es ihm bestimmt verschaffte, die ,Hexe’ im Haus zu haben, bestand er darauf, daß ich blieb. Er brauchte meine Arbeitskraft! Dann wollte ich zu meinem Vormund, dem lieben alten Pfarrer. Ich konnte ihn nicht sprechen, er sei ernstlich erkrankt. Kurz danach starb er.
Dann sparte ich eben die paar Mark, die ich jeden Monat als sogenanntes Gehalt bekam. Es war eine Lächerlichkeit, und es wurde mir immer unter die Nase gerieben, daß ich Wohnung und Essen hätte, und ich solle daran denken, daß ich so viele Jahre in meinem Größenwahn die höhere Schule besucht habe, statt meine Pflicht zu Hause zu tun.
Dann kam aber die Explosion.
Ich hatte schon gesehen, daß am Kuhstall gebaut wurde aber ich kümmerte mich wenig darum. Ich durfte sowieso nicht zu den Tieren. Aber dann. dann bekam ich die schreckliche Wahrheit zu wissen. Der Onkel hatte sich mit drei anderen Bauern zusammengetan, sie wollten die Viehhaltung intensivieren’, das heißt, sie kauften Kälber auf, und die armen Tiere wurden in dem umgebauten Kuhstall untergebracht, bei Dämmerlicht, bei siebenunddreißig Grad Hitze, ohne Streu, in wahnsinnig engen Boxen, und mit künstlichem, flüssigem Futter durch einen Schnuller ernährt.
Dann platzte ich. Ich schrie dem Onkel meine Meinung ins Gesicht, ich nannte ihn einen verdammten Tierquäler. Aber er antwortete, diese Kälberhaltung sei erlaubt und sei jetzt üblich und ich hätte gefälligst meinen Mund zu halten!
Dann beging ich eine große Unvorsichtigkeit. Ich war außer mir vor Wut und Verzweiflung, ich heulte dicke Tränen, Heidi, ich hatte die Tiere gesehen, ich war dabei, als der erste Kälbertransport kam. du machst dir keine Vorstellung darüber, was das für Tierquälerei ist! Also, in meiner Verzweiflung schrie ich: ,Ihr nennt mich eine Hexe, und jetzt wünsche ich, ich wär’s! Dann hätte ich all die armen Tiere verhext, damit sie einen schnellen Tod bekämen!’
Weißt du, was dann geschah? Eines Nachts hatte die Entlüftungsanlage versagt, und sämtliche Kälber erstickten!
Ich wußte, jetzt würde etwas Schreckliches mit mir geschehen. Ich hatte Angst. Gott, was hatte ich für Angst!
In der Nacht bin ich geflohen. Ich packte meine paar Sachen in einen Sack - den blauen, den du kennst - steckte alles, was ich an Geld hatte, in die Tasche und schlich aus dem Haus.
Später bin ich nie mehr in meinem Heimatdorf gewesen.“
Ich hatte gehorcht, hatte jedes Wort in mich aufgenommen. Jetzt fühlte ich, wie die Tränen mir übers Gesicht liefen.
Ich nahm Xenias Hände in die meinen. „Xenia. liebe, gute, arme Xenia. wie ist es möglich, daß ein junger Mensch so was durchmachen muß! Xenia, jetzt mußt du weitererzählen. Was hast du dann getan?“
„Ich ging und ging, kilometerweit, bis meine Füße schmerzten und bis ich kaum noch gucken konnte. Dann erreichte ich eine Autobahnauffahrt, und ein Fernfahrer hat mich mitgenommen. Er fuhr nordwärts, und das war mir gerade recht. Es wäre einfacher, an die Schweizer Grenze zu kommen, aber dort würde man mich vielleicht suchen. Ich wollte nach Norden, vielleicht nach Dänemark. Jedenfalls so weit weg wie möglich. Schon damals schwebte wohl Kiel rum in meinem Kopf, ich wußte, daß Jessica hier wohnte, und ich dachte, sie könnte mir irgendwie helfen. Dann fiel mir aber ein, daß jetzt gerade Semesterferien waren. Also konnte ich an der Uni nicht ihre Anschrift erfahren.
Der Fernfahrer war recht nett zu mir. Er teilte sogar sein Brotpaket mit mir. In Hannover war er am Ziel, und ich war wunderbar weit weg von meinem Dorf.
In einem Ladenfenster sah ich ein Plakat. „Reinemachehilfe gesucht“. Ich bekam den Job und sogar den Schlüssel, damit ich abends die Tür hinter mir zumachen konnte. Hinter mir. denkste! Wenn alles leer und ich allein war, legte ich mich im Lagerraum schlafen. Ich mußte nur höllisch aufpassen, daß ich früh genug morgens aus dem Haus war.
Ich wagte nie, lange an einem Ort zu bleiben. Ich fürchtete ja immer, daß ich gesucht wurde und daß die Polizei herausfinden würde, wo ich war. Ich blieb ein paar Wochen, kündigte unter einem
Vorwand, dann ging es weiter in eine andere Stadt. Ich habe um fünf Uhr morgens Zeitungen ausgetragen, ich habe in einem
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