Rywig 11 - Sonnige Tage mit Katrin
„Frau Felsdorf war nun zurück aufs Kleinkindstadium gekommen, und du sollst froh sein, daß sie nicht bis zur Säuglingszeit zurückkehrte.“
„Du weißt, ich betreue etliche Patienten im Altersheim“, sagte Bernt. „Mir tut es immer weh, wenn ich so was sehe - die ganz Alten, die gefüttert werden müssen, die sich nicht sauberhalten können, die keine Kontrolle über ihre Körperfunktionen mehr haben. Gewiß, es ist schön, alt zu werden, wenn man noch einen klaren Kopf hat. Aber den hatte nicht deine gute alte Frau Felsdorf.“
Sie sprachen so lieb und so klug mit mir, aber was half das alles? Das, was mich wirklich bedrückte, wußten sie ja nicht.
Eine Sorge kommt nie allein, heißt es immer. Gerade in diesen Tagen hatte ich auch Ärger in der Praxis. Arger über meine eigene Dummheit.
Katrin hatte neuen Lesestoff für das Wartezimmer gekauft. Unter anderem ein paar sehr schöne Bilderbücher für die Kinderecke. „Unheimlich teuer“, gab sie zu. „Aber sie waren so hübsch, daß ich nicht widerstehen konnte!“
Die kleinen Patienten stürzten sich auf die Bücher, und ich mußte aufpassen, daß sie auch zurückgelegt wurden - wir hatten leider erlebt, daß sowohl Bilderbücher als auch andere Dinge verschwanden.
Eines Tages war furchtbar viel los in der Praxis. Das Wartezimmer war voll, und dann kam eine Mutter mit einem vierjährigen Jungen, der über und über mit Ausschlägen besät war. Also nix wie rein in eine „Ansteckkabine“ mit ihm. Der junge Mann war äußerst ungnädig. Er versuchte dauernd aus seinem Gefängnis auszubrechen, war unempfänglich für gutes Zureden und fing zuletzt an, laut zu brüllen. Bernt konnte ihn beim besten Willen nicht sofort annehmen, er hatte gerade eine komplizierte Untersuchung im Sprechzimmer.
Ich schnappte das größte und feinste Bilderbuch und steckte es zu dem Brüllkind, und das half anscheinend.
Als Bernt ihn untersucht hatte, stand es fest, daß der kleine Patient blühende Masern hatte und unbedingt ins Bett gehörte.
Nach der Sprechstunde fragte Bernt so beiläufig, wie ich das Kind zum Schweigen gebracht hatte, und ich antwortete, daß es eins der feinen Bilderbücher sei, das das Wunder bewirkt hatte.
„Aber Allegra!“ rief Bernt. „Du hast doch wohl nicht einem ansteckenden Kind ein Bilderbuch aus dem Wartezimmer gegeben? Willst du denn, daß all unsere kleinen Patienten Masern kriegen? Wo ist das Buch? Noch in der Kabine? Na Gott sei Dank, also nicht zurück ins Wartezimmer. Schnell verbrennen, und wasch dir die Hände mit der antiseptischen Seife!“
Ich tat, was er sagte und kam ganz klein und unglücklich zurück.
„Ich schäme mich so, Bernt, daß ich so gedankenlos sein konnte.“, und plötzlich stürzten mir die Tränen aus den Augen.
„Aber Allegra!“ sagte Bernt entsetzt. „So schlimm war es nun auch nicht, du brauchst nicht zu weinen! Fehler machen wir doch alle. Und den Verlust eines Bilderbuches kann ich schon verschmerzen!“
„Entschuldige, Bernt“, stammelte ich. „Ich weiß nicht, warum ich heule - es ist als ob die Tränen immer parat liegen und nur auf einen Vorwand warten, um loszubrechen!“
Bernt sah mich an mit seinem forschenden Ärzteblick.
„Allegra, du weinst nicht wegen des Bilderbuches. Es ist etwas anderes, habe ich recht? Du trägst etwas mit dir rum, womit du nicht fertig wirst, stimmt es?“ Ich nickte und schniefte.
„Wenn wir dir helfen können, weißt du, daß wir für dich da sind.
Nun räume mal schnell auf, ich hole dich in etwa einer Stunde ab. Wer weiß, vielleicht können wir dir helfen, wenn dich etwas bedrückt.“
Er legte den Arm tröstend um mich, und einen Augenblick drückte ich mein verheultes Gesicht an seine Schulter.
„Hmmm“, klang es hinter uns.
Wir drehten uns um. Hinter uns stand eine Patientin, die wir beide fürchteten. „Die schlimmste Klatschbase der Stadt“, hatte Bernt einmal gesagt.
„Die Sprechstunde ist zu Ende, Frau Helgesen“, sagte Bernt. „Haben Sie was Dringendes?“
Das hatte sie nicht. Es ging nur um die Verlängerung eines Rezeptes auf ein Medikament, das sie seit Jahren einnahm.
„Na, dann geben Sie her“, sagte Bernt, schrieb ein paar
lateinische Worte und dann seinen Namen.
„Wie geht es Ihrer Frau?“ fragte plötzlich Frau Helgesen. Sie war eine der wenigen älteren Patienten, die noch das „Sie“ benutzten.
„Danke, ausgezeichnet“, antwortete Bernt ein bißchen erstaunt.
„Das ist ja gut.
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