S - Spur Der Angst
zu weisen, aber sie hatte das Unterrichten immer schon geliebt und erkannte gleich, dass viele der sogenannten problematischen Jugendlichen an diesem Institut intelligent und einfühlsam waren.
»Wir sind für heute mit unserer Zeit am Ende, also lest heute Abend bitte Kapitel siebzehn. Darüber werden wir morgen sprechen, außerdem fangen wir mit der Gliederung für Aufsätze an. Dafür könnt ihr euch jede beliebige Zeitspanne herauspicken, die ihr in diesem Schuljahr bislang durchgenommen habt, und euch bis Freitag ein gesellschaftliches Thema überlegen.«
»Was sehr viel einfacher wäre, wenn wir das Internet benutzen dürften«, beschwerte sich Lucy.
»Das ist richtig. Doch leider besteht diese Möglichkeit nicht, es muss also auf die altmodische Art und Weise gehen.«
Crystal und Ollie stöhnten theatralisch, dann strömten die Schüler nach und nach aus dem Klassenzimmer. Als alle draußen waren, trat Missy Albright ein.
Shay, wie immer die Letzte, warf Jules einen warnenden Blick über die Schulter zu. Sei vorsichtig!
Missy schien nichts davon zu bemerken und stellte ihre Tasche auf ein Pult in der Nähe von Jules’.
»Reverend Lynch hat mich Ihnen als Hilfskraft zugeteilt«, erklärte sie mit ihrer schrillen Fistelstimme, die so gar nicht zu ihr passen wollte.
»Ach?« Was für eine Überraschung. »Das hat er gar nicht erwähnt.«
»Bestimmt tut er es noch. Er hat mich gebeten, zu Ihnen zu gehen und mit Ihnen zu sprechen, und hier bin ich!« Sie zuckte übertrieben die Achseln wie ein kleines Mädchen, das dadurch noch süßer und unschuldiger erscheinen möchte. »Ich tue alles, was Sie wünschen – gleich morgen fange ich an.«
»Morgen. Ja. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich so weit noch gar nicht gedacht«, gab Jules zu, etwas irritiert, dass Lynch sie nicht darüber informiert hatte, ihr eine Hilfskraft zur Seite zu stellen. »Ich habe mir angeschaut, was meine Vorgängerin geplant hatte, aber das erscheint mir ein bisschen trocken. Vortrag, Gespräch, Fragen, Test …« Sie warf Missy einen Blick zu. »Ziemlich langweilig.«
»Es ist halt Geschichte«, erwiderte Missy, als erklärte das alles.
»Ich weiß, und ich arbeite mich auch gerade erst ein und bin mir noch nicht ganz sicher, wie ich die Dinge handhaben werde, aber ich möchte den Unterricht ein wenig interessanter gestalten.«
»Viel Erfolg.«
Jules machte sich daran, die Tische umzustellen, so dass sie einen Halbkreis vor ihrem Pult bildeten. »Im Augenblick beschäftigt sich diese Klasse mit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert und der Großen Depression. Ich halte das für eine ausgezeichnete Gelegenheit, den Schülern vor Augen zu führen, was momentan mit unserer Wirtschaft, mit unserem Land passiert. Ich hatte vor, das Ganze zu veranschaulichen, indem wir uns den damaligen Alltag ansehen, wie sich die Menschen gequält haben. Das echte Leben in den Dreißigern eben.«
»Ich dachte, Sie wollten den Unterricht interessanter machen.«
Jules verkniff sich ein Grinsen. »Sicher, also gib mir eine Chance. Wie wäre es, wenn wir eine Art Ratespiel über das Leben damals durchführen? Mit Fragen wie: Wie hoch war das durchschnittliche Monatseinkommen? Was kostete ein Brot? Welche Kinofilme waren angesagt?«
»Gab es denn damals schon Kinofilme?«, fragte Missy und lehnte sich gegen das Pult, den Blick auf Jules geheftet.
»Ja, Missy, selbst im Ewigkeiten zurückliegenden zwanzigsten Jahrhundert gab es schon Filme«, zog Jules sie auf. »Ich wette, du hast selbst bereits ein paar davon gesehen.«
Missy schüttelte energisch den Kopf, ihr blondes Haar wirkte fast weiß im Neonlicht.
»Was ist mit Klassikern wie Vom Winde verweht ? Der Zauberer von Oz oder Disneys Schneewittchen und die sieben Zwerge ?« Das Kopfschütteln hörte auf. »Was ist mit Filmikonen wie den Marx Brothers oder Shirley Temple? Wir können über die Literatur jener Zeit sprechen, spontan fallen mir da die Dr.-Seuss-Bücher ein, die Krimis von Agatha Christie, außerdem Klassiker wie Früchte des Zorns .«
Missy zeigte sich unbeeindruckt. »Den Kids ist das vermutlich egal.«
»Komm schon, sie alle haben als Kinder Dr. Seuss gelesen, und sie wissen auch, wer Agatha Christie ist. Und erzähl mir nicht, sie hätten noch nie einen Disneyfilm gesehen.« Jules spürte, wie ihr Blut in Wallung geriet. »Ich wette, sie haben schon mal Monopoly gespielt oder ein Spiel der Yankees gesehen, was beides in den Dreißigern ganz groß war. Ja, es gab die Dust
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