S - Spur Der Angst
unter ihnen auch Shay. Auf dem Lehrplan stand Amerikanische Geschichte, die Jahre vor und nach der Großen Depression im Vergleich mit der jüngsten Wirtschaftskrise.
Nach und nach strömten die Kids in den Klassenraum, manche lachend und plaudernd, andere zurückhaltender.
Shay bildete das Schlusslicht, aber zumindest war sie nicht allein. Lucy Yang, das Mädchen, mit dem sie am Wochenende Schnee und Pferdeäpfel geschaufelt hatte, kam mit ihr hereingeschlendert und setzte sich neben sie.
Konnte das als Fortschritt gewertet werden? Hatten die schlimmen Ereignisse die Mädchen zusammengeschweißt?
Jules hoffte es.
Zum vierten Mal an diesem Tag stellte sie sich kurz vor, dann versuchte sie das Eis zu brechen, indem sie sagte: »Ich weiß, dass es gerade eine schwierige Zeit für alle hier ist. Ich kannte Nona nicht, aber ich habe erfahren, dass sie in eurer Gruppe war, deshalb wird euch ihr Tod besonders schwer treffen. Wir sollten es mit dem Unterricht erst einmal etwas langsamer angehen lassen, bis zum Ende der Woche holen wir schon alles wieder auf. Am besten wäre es, ihr bringt mich zunächst auf den aktuellen Stand. Aus dem Vermerk von Studienrätin Hammersley und dem Lehrplan von Ms. Howell geht hervor, dass ihr euch durch das frühe zwanzigste Jahrhundert arbeitet.«
Niemand schien das besonders zu interessieren.
Sie konnte den Schülern keinen Vorwurf daraus machen.
Sie standen im Augenblick unter großer Anspannung, und die Zeit achtzig Jahre zuvor war für sie Schnee von vorgestern. »He, ich brauche eure Unterstützung.« Ein paar Köpfe hoben sich. Jules zwang sich zu einem Lächeln. »Ich bin hier die Neue, ihr müsst mir schon helfen. Also, wir reden über die Große Depression, und so alt ich euch auch vorkommen mag – ich habe sie selbst nicht miterlebt.«
Mehrere Kids kicherten. Gut. Ein Anfang.
Sie würde herausfinden müssen, wie es in dieser Gruppe lief, wer die Anführer waren, wer mit wem befreundet war oder eben nicht. Erfahrungsgemäß kam ein Gespräch nur langsam in Gang, und nur ein oder zwei Schüler trugen etwas dazu bei. Später kämen mehr Kids dazu, und am Ende würde ein Großteil der Klasse mitmachen.
Genauso war es auch bei den Jugendlichen aus Shaylees Gruppe. Als Jules fragte, ob jemand die Entwicklung der aktuellen Wirtschaftssituation mit den Jahren der Großen Depression vergleichen könne, schossen tatsächlich ein paar Hände in die Höhe.
Lucy Yang, Keesha Bell, Nell Cousineau und Ollie Gage beteiligten sich besonders eifrig am Unterrichtsgespräch; Ollie gab zu, dass sein Vater seine Arbeit bei der Dotcom-Pleite verloren hatte, und Keesha machte sich Sorgen, dass ihre Eltern ihre Eigentumswohnung an die Bank verlieren würden. Shay hielt die Augen fest auf ihr Pult gerichtet, und Jules musste Chaz Johnson bitten, seine Kapuze abzunehmen und wach zu bleiben. Obwohl auch Maeve Mancuso den Blick gesenkt hielt und mit irgendetwas unter ihrem Blusenärmel spielte, war sie doch in der Lage zu antworten, als sie aufgerufen wurde. Joanne Harris alias Banjo plagte das schlechte Gewissen, weil es ihrer Familie gutging, während ihr Großvater Häuser aufkaufte, die zur Zwangsversteigerung standen, um sie anschließend zu überteuerten Preisen zu vermieten – nicht selten sogar an die Vorbesitzer. Sie fand es schrecklich, wie er aus dem Elend anderer Menschen Kapital schlug.
»Das ist eine echte Sauerei«, bestätigte Ollie. »Aber dich trifft keine Schuld daran, Banjo.«
Crystal Ricci hob die Hand. »Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Depression und einer Rezession?«, fragte sie, eher gelangweilt als interessiert.
»Gute Frage«, erwiderte Jules. »Vielleicht kann das jemand von euch beantworten.«
Zu ihrer Überraschung hatten die Kids eine Vielfalt von Antworten parat, von denen manch eine zu weiteren Fragen führte. Kurz vor Schluss, bis zum Unterrichtsende waren es gerade noch zehn Minuten, gaben selbst Shay und Chaz ihren genervten Gesichtsausdruck auf und bekundeten Interesse.
Jules merkte, wie sie sich ein wenig entspannte. Wäre da nicht das Gewaltverbrechen gewesen, das alles überschattete, hätte ihr der Unterricht sogar Freude gemacht. Ja, sie würde sich mit ihren widersprüchlichen Gefühlen für Cooper Trent auseinandersetzen müssen. Ja, sie würde von Shay weiterhin bestürmt werden, sie von der Schule zu nehmen. Und ja, es gab nach wie vor offene Fragen zur Blue Rock Academy und ihren Methoden. Das alles war nicht von der Hand
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