S - Spur Der Angst
Glücklicherweise war Radnor Stanton, Cora Sues geliebter verstorbener Vater, ein Mann mit Visionen gewesen, dachte er mit mehr als nur einer Spur von Bitterkeit. Als Stanton, ein Überlebender des Kalten Krieges, ihn beim Aufbau der Blue Rock Academy unterstützt hatte, hatte er dafür gesorgt, dass diese perfekte Zufluchtsstätte erhalten blieb.
Doch Radnor Stanton war lange tot, sein unterirdischer Schlupfwinkel mit den Jahren in Vergessenheit geraten. Die uralten Dosenvorräte waren verschwunden, genau wie das Transistorradio, die Metallpritschen und riesigen Taschenlampen, die ein halbes Jahrhundert zuvor unerlässlich gewesen waren. Jetzt befanden sich ein Altar, Kirchenbänke und Windlichter hier unten. Das Belüftungssystem funktionierte noch immer, Frischluft strömte herein, gefiltert von der alten Anlage.
Es gab auch einen abgeschlossenen Schrank, in dem Gewehre, Handfeuerwaffen und Walkie-Talkies aufbewahrt wurden. Handys waren hilfreich, doch hier in den Bergen nicht immer zuverlässig. Im Geiste machte er eine Bestandsaufnahme, ging Munition, Nachtsichtgeräte, Messer, Skimasken, schusssichere Westen und zusätzliche Schuljacken durch.
Er war bereit.
Für das Armageddon.
Seine Anhänger, die er so sorgfältig ausgewählt hatte, waren ihm willig ergeben und warteten nur darauf, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Ein paar hatten seine Anweisungen bereits ausgeführt; andere würde er noch instruieren.
Er verspürte ein freudiges Kribbeln bei dem Gedanken, dass all seine Pläne, all seine Träume kurz vor der Erfüllung standen. Garantiert würde er auf Schwierigkeiten treffen, doch am Ende, da war er sich sicher, würde er triumphieren.
Schließlich hatte er Gott auf seiner Seite.
Um sich zu beruhigen und um Gott seine Ergebenheit und ehrfurchtsvolle Hingabe zu beweisen, kniete er vor dem Altar nieder und betete. Er bat um Führung, darum, dass Gott ihn auf seinem Weg leitete, dass er nicht von seiner Mission abgebracht wurde.
Er dachte an Lauren Conway, die schöne, verführerische Isebel. Wie sie ihn überlistet hatte und ihm am Ufer des Flusses, der in den Lake Superstition mündete, entkommen war. Beinahe wäre alles, wofür er so hart gearbeitet hatte, auf einen Schlag zerstört worden.
Es gab einen Grund dafür, warum man ihre Leiche nie gefunden hatte und niemals finden würde. Er erhob sich, und seine Hand fuhr erneut an seine Tasche, in der er den USB-Stick aus ihrem Rucksack verwahrte. Eingetütet in einen Ziplock-Beutel, trug er ihn stets sicher bei sich. Er hatte den kleinen Datenträger, auf dem seine Mission so sorgfältig dokumentiert war – versehen mit Fotos und Informationen über seine Person –, nicht vernichtet, damit er ihn stets daran erinnerte, wie tückisch die Begierde war, wie zerstörerisch die fleischliche Lust.
Ihr Gesicht kam ihm in den Sinn. Er erinnerte sich, wie er sie durch die Dunkelheit gehetzt hatte, wie er verzweifelt hinter ihr hergestürmt war, fest entschlossen, sie aufzuhalten. Doch er hatte nicht eingeplant, wie clever sie war, und nachdem er sie eine Stunde lang durch die in silbriges Mondlicht getauchte Landschaft gejagt hatte, war er schließlich ans Flussufer gelangt. Dort verloren sich ihre Fußspuren. Er war davon ausgegangen, dass sie von dem tosenden, eiskalten Wasser davongespült worden war.
Das hätte niemand überlebt.
Er hatte sie verflucht, weil sie ihm entkommen war, und hatte für ihre verdorbene, treulose Seele gebetet.
Noch bevor bei Anbruch der Morgendämmerung eine richtige Suche organisiert werden konnte, war er mit dem Wasserflugzeug über das Gelände geflogen und hatte Ausschau nach ihrem Leichnam gehalten. Zum Glück besaßen gleich mehrere der Lehrkräfte von Blue Rock einen Pilotenschein und hatten Zugang zu dem Wasserflugzeug, so dass niemand stutzig geworden war, weil er so früh seine Runden über dem Campus drehte. Nach einer Weile hatte er ihren dunkelblauen Rucksack entdeckt. Ein kleiner Farbklecks am verschneiten Flussufer. Er hatte nichts davon erwähnt, hatte sich nichts anmerken lassen, doch später war er zu der abgeschiedenen Schlucht geritten und hatte Laurens Leiche gefunden, die sich im Gestrüpp eines Baumstumpfs im reißenden Wasser verfangen hatte. Aschgrau und aufgedunsen lag sie im Uferwasser. Am liebsten hätte er auf ihren leblosen Körper gespuckt, doch stattdessen hatte er ein letztes Mal ihre blauen Lippen geküsst, dann hatte er sie mit aller Kraft an Land gezerrt und auf Omens Rücken
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