S - Spur Der Angst
Zimmergenossin eine Unterkunft teilen müssen, um sich »einzuleben«, bevor sie ein eigenes Zimmer beziehen dürfe. Klartext: Bis wir dir vertrauen können, wirst du rund um die Uhr von jemandem bewacht. Das war lahm, lahm und nochmals lahm. Lahmer ging’s gar nicht.
Trotzdem blieb ihr keine Wahl. Ihre Zimmergenossin, ein Mädchen, dem sie beim Essen vorgestellt worden war, war so spannend wie einer von diesen ausländischen Filmen, auf die Edie so abfuhr. Sie hieß Nona Vickers und kam von irgendwo aus dem Mittleren Westen.
Bislang hatte Shaylee noch keine Gelegenheit gehabt, sich mit Nona zu unterhalten, aber sie ging davon aus, dass es eine recht steife, ungemütliche Angelegenheit war, sich mit ihr ein Zimmer zu teilen. Sie war oft genug die Neue an einer Schule gewesen, um zu wissen, wie so etwas lief. Am Anfang wäre sie isoliert, wenngleich voller Neugier beäugt, und ein paar Gutmenschen würden versuchen, sie unter ihre Fittiche zu nehmen, doch wenn sie wirkliche Freunde gewinnen wollte, würde sie sich beweisen müssen. Aber sie wollte keine Freunde finden. Noch nicht. Erst wenn sie sich einen richtigen Eindruck verschafft hatte.
Wenn sie überhaupt so lange hierbleiben müsste.
Sie drückte sich die Daumen. Hoffentlich würde Jules sie irgendwie hier rausholen!
Shay stand auf und riss das Pflaster von der Ellbeuge, dann ging sie wieder im Zimmer auf und ab, ohne einen Blick auf das Lesematerial zu werfen, das überall herumlag. Dieser ganze religiöse Mist und Selbsthilfequatsch, mit dem sie doch nichts anfangen konnte.
Unter einem Regal mit Büchern wie Die Antwort oder Mit Jesus an meiner Seite sprudelte leise ein Aquarium, in dem knallbunte Fische um künstliche Felsen und Algen herumschwammen. Shay hatte bereits eine Stunde damit zugebracht, einen scheuen, winzigen Aal in seiner kleinen Höhle bei einer Korallenkolonie zu beobachten. Alle paar Minuten streckte er seinen Kopf hervor, nur um ihn gleich darauf wieder zurückzuziehen.
»Ich weiß, wie du dich fühlst«, versicherte sie dem ängstlichen Fisch.
Beim Geräusch ihrer eigenen Stimme blickte sie über die Schulter, in der Gewissheit, dass jemand sie beobachtete, sie belauschte, jede ihrer Bewegungen registrierte. Seit sie in das Wasserflugzeug gestiegen war, hatte sie das Gefühl, von verborgenen Augen verfolgt zu werden, Augen, die ebenso bösartig wie neugierig dreinblickten.
Paranoid. Shay, das klingt wirklich paranoid. Wenn du so weitermachst, endest du genau wie Jules als emotionales Wrack. Als könntest du je mit ihr zusammenleben, mach dir doch nichts vor!
Trotzdem wusste sie, dass ihre Schwester ihre einzige Chance auf Rettung war. Die einzige Person, die sie aus dieser gruseligen Anstalt herausholen konnte.
Niemand, dem sie hier begegnet war, würde ihr wirklich zu Hilfe kommen können. Der Erste, den sie kennengelernt hatte, war Kirk Spurrier, der Pilot. Um die vierzig, dunkelhaarig, hatte er die Augen fest auf den Horizont gerichtet. Wenigstens hatte er die Klappe gehalten, hatte den Kopfhörer mit dem Mikrofon vor dem Mund aufgesetzt und nur ab und an ein wenig Smalltalk gemacht. Ihren kurzen Gesprächen hatte sie entnommen, dass er nicht nur das Wasserflugzeug flog, sondern auch unterrichtete.
Als sie über den Campus gegangen war, hatte sie ein paar der anderen »Insassen« aus den Fenstern blicken sehen. In der Krankenstation war sie auf zwei Typen getroffen, beide um die zwanzig, die über bestimmte Privilegien verfügten. Der eine war Asiate, der andere ein Latino, anscheinend arbeiteten sie dort. Durch die Glaswand, die den Empfangsbereich von ihrer »Zelle« trennte, hatte sie den Asiaten beobachtet, der geschäftig auf seine Laptoptastatur einhämmerte. Sein Kumpel, der Latino, war weniger eifrig: Ein paarmal waren seine Augen zu ihr herübergeglitten, und er hatte ihr sogar verstohlen zugelächelt, doch das Lächeln war ihm schnell vergangen, als die Schwester auf der Bildfläche erschien. Jordan Ayres, diese Knochenbrecherin, war definitiv die Autoritätsperson der Krankenstation.
Shay knibbelte an der kleinen Kruste, die sich über dem Einstich gebildet hatte, und fragte sich, ob sie den Latino dazu bringen konnte, ihr zu helfen. Er schien sich für sie zu interessieren, und sie brauchte einen Verbündeten. Er war der erste potenzielle Freund, den sie entdeckt hatte.
Sie dachte an die anderen, die sie bisher kennengelernt hatte, überwiegend Lehrer, doch die konnte sie vergessen. Dann fiel ihr der Typ ein,
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