S - Spur Der Angst
aufmerksam, ihre Großtuerei wich Argwohn. »Du wolltest von zu Hause fort, das wusste ich, und du warst die Einzige, der ich wirklich etwas bedeutete. Zumindest dachte ich das. Aber ich hatte mich geirrt. Alles wurde anders. Du wolltest trotzdem aufs College, und du warst mit einem Typen zusammen, den ich nicht kannte. Mit demselben Scheißkerl, der hier mein Gruppenleiter wurde … was für ein dummer Zufall!«
Trent. »Ich kann das nicht glauben.«
»Natürlich nicht, du Ausbund an Tugend.« Shay schnaubte. »Es übersteigt deine Vorstellungskraft, dass jemand etwas Böses tun könnte. Was für ein Pech – leider konnte ich dich nicht überzeugen, dass an der Schule etwas faul ist, aber zum Glück gab es Spurrier und seinen Irrentross.« Sie wirkte äußerst zufrieden mit sich und schien sich an Jules’ Entsetzen regelrecht zu weiden. »Ich habe mich gefragt, ob du jemals zwei und zwei zusammenzählen würdest. Die Blutflecke auf dem Schlafsack und neben den Leichen von Andrew und Maeve waren wirklich ein Wink mit dem Zaunpfahl! ›S‹ wie Shay, ich habe dich auf die Probe gestellt, und du hast versagt, Jules. Total versagt. Wie blöd bist du eigentlich?«
Es stimmte also. Jules musste der Wahrheit ins Auge blicken.
Shay war eine kaltblütige Mörderin. Und sie stand zwischen ihr und der Tür. Dieses Mädchen, das sie einst vergöttert hatte, die junge Frau, die Jules auf vielerlei Weise so ähnlich war, stand mitten im Zimmer, drohend, als wollte sie die Flucht ihrer Schwester verhindern. Allmächtiger, was war nur aus Shay geworden? Wo war das süße kleine Mädchen, das sie so sehr geliebt hatte? Wie hatte ein solches Monster aus ihm werden können?
Shays Lippen verzogen sich, als hätte sie Jules’ Gedanken gelesen. Ihre Augen glänzten. »Du verstehst mich immer noch nicht, hab ich recht, Jules?«
»Nein.« Das war die Wahrheit.
»Und du wirst mich niemals verstehen.« Binnen eines Herzschlags wurde Shays Blick leer, völlig emotionslos. Was immer sie beide einst verbunden hatte, war schlagartig verschwunden, und zum ersten Mal empfand Jules einen Anflug von Angst.
»Wir müssen jetzt los«, sagte sie mit fester Stimme, ein Auge auf die Tür gerichtet.
»Und wohin? Denkst du wirklich, ich würde dir glauben, dass du dich für mich interessierst? Mir helfen willst? Vergiss es!«
»Shay, mit dem richtigen Rechtsanwalt besteht die Chance –«
»Scheiß auf den richtigen Rechtsanwalt!« In Shays durchtrainiertem Körper spannten sich sämtliche Muskeln an, und binnen einer Sekunde verwandelte sie sich in eine herzlose Mörderin. Sie kniff die Augen zusammen und nahm eine geduckte Haltung ein. Jules wusste, dass sie sich zum Angriff bereit machte.
In diesem Augenblick war ihr klar, dass Shay sie töten würde.
Shay umkreiste Jules, die Augen fest auf ihr Opfer gerichtet. Sie visierte Jules’ Gesicht an. »Shay, nein!«
Zu spät! Mit vor Konzentration gebleckten Zähnen wirbelte Shay herum, ihr Stiefelabsatz zischte neben Jules’ Kopf durch die Luft.
Jules duckte sich.
Der Absatz traf sie an der Schulter. Schmerz durchfuhr sie.
»Shay, um Himmels willen! Hör auf!«
»Niemals!« Sie setzte zum nächsten Tritt an.
Jules schrie und sprang auf die Tür zu.
Shay, die Augen dunkel vor Hass, brachte sich erneut in Position.
Raus hier! Du musst hier rauskommen!
Jules’ Hände griffen nach dem Türknauf.
Shay hatte diese Bewegung vorausgesehen. »Darauf habe ich lange gewartet«, zischte sie mit boshafter Befriedigung. Dann wirbelte sie erneut herum, den Fuß zum Tritt erhoben, doch sie rutschte auf dem Handtuch aus, mit dem sie die verschüttete Cola aufgewischt hatte.
»Verflucht!«, brüllte sie, als sie ins Wanken geriet.
Jules ließ sich zu Boden fallen.
Shays Bein zischte über ihren Kopf hinweg.
Jules fasste Shays Unterschenkel, und mit einem Aufschrei ging diese zu Boden. Ihr Kopf schlug auf den Holzdielen auf.
Durch den Gang polterten Schritte.
»Hier drinnen!«, schrie Jules.
Wild um sich schlagend und tretend, versuchte Shay, sich aus dem Griff ihrer Schwester zu befreien, offenbar fest entschlossen, diese zu töten. Zusammen rollten sie über den Boden. Jules prallte mit dem Rücken gegen einen Bettpfosten und schrie laut auf vor Schmerz.
Hatte sie nicht jemanden auf dem Gang gehört?
»Hilfe!«, schrie sie verzweifelt und klammerte sich an das Bein ihrer Schwester. Shay hatte sich in ein rasendes Monster verwandelt, tobte, fluchte, kratzte und spuckte.
Sie hatte ein
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