S - Spur Der Angst
verdächtigt, Rip Delaney umgebracht zu haben, den Mann, den sie zweimal geheiratet hatte. Andere spekulierten, die neunzehnjährige Jules, die ihn gefunden und das Messer aufgehoben hatte, habe ihn damit brutal erstochen. Selbst Shay hatte unter Verdacht gestanden, doch die Fußspuren vor dem Haus und die offene Tür, die scheinbar gewaltsam geöffnet worden war, hatten die Polizei davon überzeugt, dass ein Eindringling Rip Delaneys Brieftasche gestohlen und ihn getötet hatte.
Dieser Eindringling war allerdings nie gefasst worden, und obwohl sich die Wolke des Verdachts langsam aufgelöst hatte, war es nie wieder wie vorher gewesen.
Jules konnte noch so häufig zur Psychotherapie rennen, noch so viele Psychopharmaka in sich hineinstopfen – nichts vermochte das Entsetzen des immer wiederkehrenden Traums zu mindern, der ihr den Schlaf raubte und ihr kräftezehrende Migräneanfälle bescherte, die sie zwangen, mitunter ganze Tage im Bett zu verbringen.
Selbst noch nach sieben Jahren.
Also lief sie.
Jeden Tag.
Gleichgültig, ob bei Regen oder bei Sonnenschein.
Nur wenn der Schnee höher als knöcheltief lag oder es so glatt war, dass akute Rutschgefahr drohte, gönnte sie sich eine Auszeit.
Das Joggen hielt ihre Dämonen unter Kontrolle und half ihr beim Schlafen.
Sie bog um die letzte Kurve und sprintete hügelabwärts. Von diesem Punkt aus sah sie für gewöhnlich Teile des Sees, aber heute war das nicht möglich. Der Nebel war zu dicht, die Dunkelheit zu schnell hereingebrochen.
Als sie die Eingangstür aufschloss, ging ihr Atem schnell, und sie war schweißgebadet. Sie bückte sich, um Diablo zu streicheln, dann sprang sie unter die Dusche, wusch sich die Haare und drehte sie zu einem Knoten. Ein bisschen Lippenstift musste genügen.
Auf dem Weg zur Tür schnappte sie sich ihr Handy und steckte es in die Tasche. Bei ihrer Internetrecherche war sie auf die Telefonnummer von Lauren Conways Eltern in Phoenix gestoßen. Sie hatte es zweimal probiert und jeweils eine kurze Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen, doch bislang hatte niemand zurückgerufen. Sie schätzte, wenn jemand Blue Rock in den Dreck ziehen würde, dann die Conways. Entweder würden sie mit ihr über ihre vermisste Tochter sprechen, oder sie würden sie abwimmeln. Doch es war auf jeden Fall einen Versuch wert.
Bei ihrer Suche nach Maris Howell war sie nicht so erfolgreich gewesen.
Noch nicht.
Sie schloss die Tür hinter sich ab, dann ging sie zu ihrem Volvo. Auf der Fahrt zu dem Sushirestaurant in der Nähe des Pike Place Market beschlugen die Autoscheiben. Als Jules in die Pine Street einbog, spähte sie hinaus und entdeckte einen älteren Cadillac, der gerade aus einer Parklücke setzte. Sie parkte ein, froh, bloß für ein paar Stunden auf einem Straßenparkplatz bezahlen zu müssen. Das war weitaus billiger als ein Parkhaus. Sie zog sich ihre Kapuze über und trabte die vier Blocks zum Oki.
Die Sushibar war ganz in Metall und Glas gehalten, das Licht gedämpft. Exotische Fische, die hoffentlich nicht auf der Speisekarte standen, schwammen in verschiedenen Aquarien. Die meisten der kleinen Tische waren besetzt, die Gäste unterhielten sich leise. Erin wartete bereits und winkte ihr aus einer Sitznische weiter hinten zu. Gerri saß ihr gegenüber.
»Wir haben schon bestellt«, verkündete Erin, als Jules neben ihr Platz nahm. »Als Vorspeise Edamame, dann California-Maki und Krabben-Tempura.«
»Außerdem Drachen- und Regenbogenrolle«, fügte Gerri hinzu.
»Klingt gut.«
»Wir wussten nur nicht, was du trinken möchtest.«
»Dazu? Natürlich Sake.« Sie blickte auf Erins Weißwein und Gerris Martini. Sie kannten sich seit ihrem ersten Jahr auf dem College, waren alle im selben Studentenwohnheim untergebracht gewesen, keiner Schwesternverbindung beigetreten und hatten im Hauptfach Pädagogik studiert. Gerri kam aus Washington, D.C., Erin war in der Gegend von Spokane aufgewachsen. Erin hatte Cooper Trent über ihren älteren Bruder kennengelernt, der Pferde ausbildete.
Sie tranken, aßen und lachten. Erins sarkastischer Humor half, das ungute Gefühl zu verdrängen, das Jules hinsichtlich Shays Aufenthalt in Blue Rock beschlichen hatte. Doch dann sah Erin Jules skeptisch an.
»Was ist los mit dir? Du siehst deprimiert aus«, sagte sie und tauchte ein Stück Regenbogenrolle in die Sojasoße. »Jetzt sag nicht, es geht um Sebastian.«
Jules runzelte die Stirn. »Nein.«
»Natürlich nicht«, sagte Gerri
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