S - Spur Der Angst
Schüler zugestoßen sein könnte. Segeln, reiten, wandern, klettern – all diese Aktivitäten, die in Blue Rock großgeschrieben wurden, waren gefährlich. Und möglicherweise tödlich.
»Wer ist es?«, stieß sie hervor, entdeckte eine Abzweigung für eine Holzabfuhrstraße und trat auf die Bremse. Rutschend kam der Volvo zum Stehen. Jules stellte die Automatik auf Parken.
»Bevor nicht die nächsten Angehörigen informiert sind, darf ich Ihnen leider keine genaueren Auskünfte geben. Das ist unsere Schulpolitik.«
»Aber ich gehöre zum Kollegium«, sagte Jules und spürte, wie ihr Herz unkontrolliert zu schlagen anfing. Nicht Shay, bitte, lieber Gott, lass sie mit dem zweiten Schüler nicht Shay meinen!
»Keine Sorge, Sie werden alles erfahren, sobald Sie hier sind. Sie sind doch unterwegs, oder?«
»Ja, es dürfte nicht mehr weit sein … vielleicht zwanzig oder dreißig Meilen. Aber es hat gerade angefangen zu schneien.«
»Es ist ein Sturm angesagt, Sie sollten also besser langsam fahren. Besitzen Sie Schneeketten?«
»Ja, im Kofferraum.« Jules hatte sie noch nie benutzt, war sich nicht einmal sicher, wie sie sie anlegen sollte.
»Parken Sie vor dem Wachhaus«, sagte Hammersley. »Dort gibt es einen Platz für die Fahrzeuge der Mitarbeiter. Ich werde jemanden zum Tor schicken, der Sie dort abholt, und Ihren Namen auf die Passierliste setzen lassen, damit Sie keine Schwierigkeiten bekommen.«
»Vielen Dank«, sagte Jules kläglich. Sie drückte die Aus-Taste, ließ die Schultern sacken und holte zur Beruhigung ein paarmal tief Luft. Die Fenster des Volvos waren während des kurzen Gesprächs beschlagen, die Berge weißer und weißer geworden. Auf der Motorhaube lagen bereits anderthalb Zentimeter Schnee. Eine böse Vorahnung und ein bitteres Gefühl der Einsamkeit überkamen sie, und Furcht stieg in ihr auf. Selbst wenn Shay nichts zugestoßen war, so war doch zwei Schülern etwas Schlimmes zugestoßen. Zwei Familien würden sich genau solche Sorgen machen wie sie jetzt.
Sorgen, wie Shay sie sich gemacht hatte, als man sie nach Blue Rock verfrachtete?
Mit zitternden Händen stellte Jules die Automatik auf Drive und bog wieder auf die Straße. Zum Glück drehten ihre Reifen nur leicht durch. In welche Situation hatte sie sich da nur hineinmanövriert?
Rhonda Hammersley betrat den Gemeinschaftsraum, in dem sich die Schüler auf Lynchs Geheiß hin versammelt hatten. Die Detectives vom Büro des Sheriffs wollten zusammen mit mehreren Deputys jeden einzelnen befragen, und während sie noch die Spreu vom Weizen trennten, mussten alle übrigen warten.
Düstere Stimmung hing im Raum, es war unheimlich still. Niemand riss Witze. Niemand spielte Gitarre. Sämtliche Schüler saßen vor ihren aufgeschlagenen Büchern, obwohl der Oberstudienrätin klar war, dass keiner von ihnen lernte.
Doch wer konnte ihnen einen Vorwurf machen?
Hinter den Fenstern fiel immer noch der Schnee, wie schon den ganzen Tag über. Große, lockere Flocken trudelten träge vom Himmel und bedeckten Boden, Bäume und Wege mit einer weißen Decke.
Der Campus wirkte idyllisch und friedlich, doch der Schein trog. Die Schüler hatten Angst, und Charla King, die Schulsekretärin, hatte berichtet, dass bereits ein paar aufgeschreckte Eltern angerufen hatten. Irgendwie war durchgesickert, was passiert war. Vielleicht hatte ein Angestellter der Schule oder jemand vom Department geplaudert, vielleicht auch jemand aus dem Krankenhaus, in dem Andrew Prescott noch immer um sein Leben kämpfte.
Doch ganz gleich wo das Leck war – die Nachricht hatte sich verbreitet. Hammersley hatte Reverend Lynch dabei geholfen, ein paar Anrufe von Medienvertretern abzuwimmeln. Vor dem Haupttor parkte der Van eines Fernsehsenders, und wenn sich die Wetterbedingungen besserten, würden Hubschrauber über Blue Rock kreisen und versuchen, den Campus zu filmen. Ihr war klar, dass das Wetter das Einzige war, was eifrige Reporter, besorgte Eltern und jede Menge Vertreter von Anwaltskanzleien davon abhielt, sich auf den Weg zur Schule zu machen. Auch Tragödien aus der Vergangenheit wie das Verschwinden von Lauren Conway und Maris Howells angeblicher Fehltritt würden wieder aufgegriffen werden.
Blue Rock standen finstere Zeiten bevor.
Voller Sorge durchquerte sie den großen Raum mit der Sitzecke vor dem gemauerten Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte. Trotz aller Schwachstellen und Fehler liebte sie diesen Ort, glaubte an die Mission von Blue Rock.
Weitere Kostenlose Bücher