S - Spur Der Angst
wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Computer und den Zahlenreihen auf dem Bildschirm zu, während Trent zwischen den gläsernen Zellen hindurchmarschierte, in denen weitere Mitarbeiter emsig die ihnen zugewiesenen Aufgaben erledigten.
Seine Stiefel hinterließen nasse Spuren von geschmolzenem Schnee auf der kurzen Treppe hinauf zu Lynchs Geschäftsbüro, dem Ort, an dem sich der Reverend mit weltlichen Dingen befasste. Für schulische Belange verfügte er über ein kleineres, gemütlicheres Büro innerhalb des Kirchenkomplexes. Jener von Regalen voller Bücher gesäumte Raum war Gesprächen über den Glauben, persönliche Probleme oder spirituelle Fragen vorbehalten. Dr. Lynch benutzte ihn auch, wenn er über theologische Dinge nachdenken wollte.
Hieß es zumindest.
Trent klopfte an die halb geöffnete Tür, dann betrat er den mit Kiefernholzpaneelen ausgekleideten Raum. Tobias Lynch saß an seinem überdimensionierten Schreibtisch.
»Trent!«, rief er mit einem breiten Lächeln und deutete auf einen der Besucherstühle. »Nehmen Sie Platz.«
Als Trent auf den Schreibtisch zutrat, bemerkte er Adele Burdette, die so zerstreut wirkte wie immer. Die Oberstudienrätin, die gleichzeitig als Vertrauenslehrerin die weiblichen Schüler betreute, stand am Fenster, eine Hüfte gegen die Fensterbank gelehnt, und blickte hinaus auf die aufgewühlte Wasseroberfläche des Lake Superstition. Sie war Mitte vierzig, durchtrainiert und kräftig, eine sauertöpfische Frau, die keine Mühe an Make-up verschwendete. Ihr lockiges rotes Haar, durchzogen von ersten silbernen Strähnen, war zu einem straffen Pferdeschwanz frisiert.
»Wir haben bloß ein paar Minuten«, sagte Lynch, »aber ich dachte, ich bringe Sie schnell auf den neuesten Stand, unseren Neuzugang betreffend.«
Lynch kauerte mit hochgezogenen Schultern hinter seinem Schreibtisch wie ein moderner Abraham Lincoln; hinter seiner getönten Brille verbargen sich Augen, die dunkel waren wie Obsidian, Augen, so vermutete Trent, denen nicht viel entging. »Ich weiß, es ist sehr kurzfristig, aber manchmal ist das hier eben so.« Seine Lippen, umrahmt von einem Schnurr- und Kinnbart, verzogen sich zu einem kurzen Lächeln. Hier in Blue Rock erfüllte Lynch viele Rollen: Die des religiösen Oberhaupts genau wie die des Religionslehrers, er war Oberstudiendirektor und Vertrauenslehrer für die Jungen und gleichzeitig Dekan der Fakultät. »Ich habe die Papiere heute Morgen per Fax bekommen. Unser Neuzugang heißt Shaylee Stillman, genannt ›Shay‹.«
Trents Muskeln verspannten sich. Nein, das konnte nicht sein. Nicht Jules’ Schwester. Er musste sich verhört haben.
»Sie ist mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten, und ihre Mutter befürchtet, dass es nach ihrem achtzehnten Geburtstag eher noch schlimmer werden wird.«
Burdette nickte. »Die Mutter hat recht; ich habe die Unterlagen gelesen.«
»Woher kommt sie?« Trent zwang sich, sich gespielt lässig zurückzulehnen. Wenn die neue Schülerin tatsächlich Shay Stillman war, würde das seine Aufgabe hier kompliziert machen. Äußerst kompliziert.
»Aus Seattle«, antwortete Burdette.
Verdammt!
»Aus Ihrer Gegend«, fügte Lynch hinzu.
»Ich komme aus Spokane.«
»Oh. Richtig.« Lynch fuhr sich mit einem Finger über den spärlichen Bart und überflog das oberste Blatt des vor ihm liegenden Papierstapels.
Burdette blickte wieder aus dem Fenster.
Sehr viele Gedanken schienen sie sich nicht gerade um die neue Schülerin zu machen, dachte Trent.
»Wie dem auch sei«, fuhr Lynch nach einer kleinen Weile fort, »ich habe sie Ihrem Trupp zugeteilt.« Er schob die gefaxten Unterlagen in Trents Richtung. »Hier drin steht alles, was Sie über sie wissen müssen. Gehen Sie bitte den Fragebogen durch.«
»Klassischer Fall«, murmelte Burdette.
»Wann wird sie hier erwartet?«
»Innerhalb der nächsten Stunde.«
»So bald schon?« Trent versuchte, sich seine Unruhe nicht anmerken zu lassen.
»Sie ist bereits unterwegs. Der Pilot hat vorhin gemeldet, sie seien nördlich von Eugene.«
Trent setzte ein ungerührtes Gesicht auf, doch innerlich kämpfte er gegen die aufsteigende Panik an. Wenn sie die Shay Stillman war, die er kannte – und es klang ganz so, als wäre sie es –, dann war sie Jules’ Halbschwester und ein absoluter Satansbraten. Das Alter stimmte, der Hang zu kriminellem Verhalten ebenfalls, und sie kam aus der Gegend um Seattle. Das würde Unannehmlichkeiten für Trent bedeuten. Große
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