Saat der Lüge
Sternohrring, in den ich am Tag des katastrophalen Abendessens im Schlafzimmer getreten war. Ich hatte ihn in das Schmuckkästchen gelegt, in dem auch ihr Ehering lag, weil ich glaubte, er gehöre Cora.
Ohne Vorwarnung kroch mir etwas knisternd die Wirbelsäule hoch und drängte sich in meinen Verstand, wo sich die Puzzleteile plötzlich zu einem Bild zusammenfügten. Deshalb hatte sie es also getan. Deshalb hatte sie sich mit dem Messer die Pulsadern aufgeschlitzt, und deshalb hatte sie mir wochenlang etwas vorgejammert: weil ihr der Ohrring verraten hatte, was er jetzt mir verriet. Nämlich, wo Mike gewesen war und was er aller Wahrscheinlichkeit nach dort getan hatte.
Wie sonst war der Ohrring in ihr Schlafzimmer gekommen? Jennys Ohrring. Das vermeintlich in den Wogen des Taff verloren gegangene Gegenstück zu dem Ohrring, den man an ihrer Leiche gefunden hatte.
Hatte sie vielleicht noch mehr gewusst? Hatte Mike ihr am Ende doch etwas erzählt? Etwas, das er mir verschwiegen hatte? Vielleicht war ihr Mann ja nicht nur ein Ehebrecher, sondern auch noch ein Mörder? Die Ungewissheit musste sie fertiggemacht haben.
In dem Stapel mit Zeitungsausschnitten befand sich außerdem ein Foto von der Nacht im Charlie’s. Ich war so betrunken gewesen, dass ich Coras Kamera ganz vergessen hatte. Da standen wir: alle vier nebeneinander. Ich erinnere mich nicht, wer das Foto gemacht hat – irgendein Typ, den wir dazu genötigt hatten, glaube ich. Wir sahen alle so glücklich aus – ich, Cora, Mike und Stevie. Das Foto musste entstanden sein, bevor Jenny aufgetaucht war. Mikes Arm lag um Coras Schultern, er grinste. Stevie hatte den Arm um mich gelegt. Zwei lächelnde Pärchen. Ich lachte sogar.
Happy Birthday! ist die wortlose Botschaft des Fotos. Wir liebten uns und waren Freunde und nahmen es mit der ganzen Welt auf.
Heute weiß ich, dass keine echten Leben, keine echten Wahrheiten mit dem Klicken des Blendenverschlusses eingefangen wurden, nur hundert mögliche Erklärungen, Identitäten, Antworten. Sie erstarren im eingefangenen Gelächter, im Blitzlicht, das von einem Wangenknochen reflektiert wird, im Schimmer der Gläser, in den Verheißungen unserer frisch nachgezogenen Lippen. Ich sehe mein Gesicht, makellos, glühend, Blicke erregend, einen stummen Handel versprechend: Ich bin jung, ich bin schön, ich kann dich zum Teil meiner Träume machen. Ich kann dein Grund sein.
Ich versteckte die Fotos und die Zeitungsausschnitte und verließ eilig das Haus. Erst als ich die Treppe hinuntereilte, fiel mir ein, dass die Wodkaflasche und die Schlaftabletten immer noch in meiner Schultertasche waren. Ich musste sie so schnell wie möglich loswerden, schließlich trank ich selbst keinen Wodka. Ich warf sie in eine Mülltonne am Ende von Coras Straße.
Hätte ich den Alkohol und die Tabletten wirklich zu dem Zweck eingesetzt, zu dem ich sie mitgebracht hatte? In der Nacht, in der ich Cora fand? Hätte ich ihr köstlich starke Gläser Wodka aufgedrängt, die ich vorher heimlich mit den zerstoßenen Tabletten präpariert hatte, die der Arzt Cora gegen ihre Schlaflosigkeit verschrieben hatte? Hätte ich ihr immer noch mehr Wodka eingeflößt und ihr eingeredet, dass es wie in alten Zeiten sei, dass es ihr helfen werde, zu entspannen und tief und fest durchzuschlafen? Hätte ich sie dann auf ihr Bett gelegt und warm zugedeckt, wohl wissend, dass Mike frühestens im Morgengrauen kommen würde? Sobald sie bewusstlos war, hätte ich sie in die volle Badewanne wuchten und langsam unter Wasser sinken lassen können. Ich hätte noch nicht einmal dableiben und zusehen müssen, wie es passierte. Ich hätte gehen und dem Schicksal seinen Lauf lassen können.
Nicht einmal meine Fingerabdrücke hätte ich von der Flasche oder dem Rest der Wohnung wischen müssen, nur von den Tabletten. Warum hätten wir beide nicht zusammen einen trinken sollen? Cora hatte bereits Antidepressiva verschrieben bekommen und war psychisch labil gewesen, das konnte jeder bezeugen, besonders die Kassiererin im Tesco, die von ihr mit Süßigkeiten beworfen worden war. Inzwischen wissen Sie ja, was für eine überzeugende Lügnerin ich bin. Vor der Polizei hätte ich genau den richtigen Auftritt hingelegt: voller Entsetzen und Tränen und Verletzlichkeit.
Hätte ich es getan, um Mike zu schützen? Diese Frage ließ mich im Dunkeln auf der Treppe innehalten. Hatte er vielleicht getötet, um Cora zu schützen? Ich fuhr nach Hause. Und schlief wie eine
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