Saat der Lüge
Zufall?
Er erkannte mich natürlich sofort, und auf seinen Lippen erschien ein kleines, fast verlegenes Lächeln. Ansonsten war er äußerst sachlich und professionell.
Er führte mich zum Sessel am Fenster, durch das ich den Krankenwagen und die übliche Ansammlung perverser Gaffer sehen konnte, die einen Blick auf den geschundenen Körper zu erhaschen hofften. Unter normalen Umständen hätte ich mich unter sie gemischt und gefragt, was sie gesehen oder gehört hatten, hätte hektisch alle Einzelheiten notiert, die ich aus ihnen herausbekam. Der Polizist bemerkte meinen Blick und zog den rosa Samtvorhang zu. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er. »Es wird alles wieder gut.«
Seine Anwesenheit verunsicherte mich derart, dass mir die Frage, warum er so schnell zur Stelle gewesen war, gar nicht in den Sinn kam. Er war mir gefolgt, müssen Sie wissen. Zuerst zu meiner Wohnung und dann durch die leeren Straßen zu Cora.
Aber als ich jetzt wieder bei Coras und Mikes Haus ankam, war die Polizei verschwunden. Der müde Polizeikommissar, der sich desinteressiert den Bericht seines jungen Kollegen angehört hatte, war längst wieder in sein warmes Zuhause zurückgekehrt. Hätte er einen Abschiedsbrief entdeckt, dann hätte er mich doch sicher darauf angesprochen. Was machte ich also hier?
Wieder benutzte ich den Ersatzschlüssel, um ins Haus zu gelangen. Er war immer noch in meiner Tasche, da, wo ich ihn vor lauter Schreck über den unerwarteten Anblick im Badezimmer vergessen hatte. Ursprünglich hatte ich natürlich vorgehabt, ihn abzuwischen und nach getaner Arbeit wieder in den Blumentopf zu stecken.
Es gab Anzeichen dafür, dass sich die Polizei ein wenig auf Coras Frisierkommode, ihrem Schreibtisch und auf dem Kaminsims umgesehen hatte, aber das meiste stand noch an seinem Platz. Für eine gründlichere Durchsuchung war es zu spät und zu kalt gewesen. Bei Tagesanbruch würden mit Sicherheit weitere Fragen auftauchen, aber es stand bereits fest, dass es sich um selbst zugefügte Verletzungen handelte.
Trotzdem musste ich sicherstellen, dass die Polizisten nichts übersehen hatten. Unter einem Stapel Schulhefte auf dem Wohnzimmertisch fand ich Coras Tagebuch. Es sah aus wie das Tagebuch, das ich ihr zusammen mit einem kleinen Adressbuch und einem Füller zu ihrem ersten Geburtstag an der Uni geschenkt hatte. Es war als Scherz gedacht gewesen, weil Cora ihr Tagebuch versehentlich im Waschsalon mitgewaschen hatte, im Kochwaschgang. Als ich das Buch unter den Heften vorzog, stellte ich fest, dass es sich tatsächlich um mein Geschenk handelte. In den Buchdeckel hatte ich mit blauem Kuli geschrieben: »Für Cora, die Froschkönigin, die am 11. August im Alleingang alle Brötchen vernichtet und mit einem einzigen Streich das Bügelbrett überwältigt hat.«
Der Sinn dieser Widmung erschloss sich mir nicht mehr, die meisten Anspielungen hatte ich längst vergessen.
Zwischen letztem Blatt und Rückendeckel lag ein Foto. Es war das Gruppenfoto, das hinter dem Hochzeitsfoto in dem Bilderrahmen gesteckt hatte, den ich in Coras Schlafzimmer umgestoßen hatte. An meiner Pinnwand hing genau dasselbe Foto: Cora in ihrem orangeroten Kleid, das Tom-Cruise-Poster, sogar der Vibrator sind zu sehen. Neben dem Foto lagen sauber gefaltet ein Dutzend Zeitungsausschnitte über Jenny, darunter die ersten beiden Vermisstenmeldungen, die erschienen waren, bevor ich überhaupt gewusst hatte, dass sie verschwunden war, bevor mich Owain informiert hatte. Außerdem die Meldung des Leichenfunds, bevor Jenny identifiziert war, und schließlich sämtliche Folgeartikel einschließlich des Berichts über die Eröffnungsverhandlung der gerichtlichen Untersuchung, erschienen zu einem Zeitpunkt, an dem sich Cora vermeintlich noch in seliger Unwissenheit über Jennys Schicksal befunden hatte.
Ich starrte Jennys Gesicht auf einem der Zeitungsfotos an, und sie starrte mit leerem Blick zurück. Das Foto sah aus, als wäre es bei einer Geburtstagsparty entstanden, vielleicht an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Jenny schien vom Fotografen überrascht worden zu sein und war weniger herausgeputzt als in der Nacht im Charlie’s, wodurch sie deutlich jünger aussah. Auf dem Foto waren ihre Haare etwas heller und länger, zumindest glaubte ich das. Offen gestanden konnte ich mich kaum noch an ihr Aussehen erinnern.
Aber das war noch nicht alles. In einem einfachen weißen Umschlag von der Sorte, wie man sie in jedem Laden kaufen kann, lag der
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