Saat der Lüge
wohlwollender, ein bewundernder, ein liebender Blick trifft, und dann erleben muss, wie dieser Blick anderswo hinwandert und der Körper ihm folgt?
Ich glaubte es zu wissen. Und ich glaubte auch etwas anderes zu wissen, etwas, das Stevie vielleicht noch nicht wusste.
Nachdem es Cora damals, vor all den Jahren, nicht über sich gebracht hatte, mir wehzutun, hatte sie nun jemand anderem wehgetan, als sich die Gelegenheit dazu ergab. Vermutlich völlig umsonst.
Plötzlich ergab alles einen Sinn. Um mich herum war zu viel Licht und Bewegung, das Zimmer drehte sich. Was hatten wir – ich, er, Stevie – getan? Wie hatte ich je annehmen können, Mike könnte den Mumm haben, jemanden umzubringen? Dass er überhaupt irgendetwas anderes konnte als tatenlos zuzusehen, wie die Dinge um ihn herum ihren Lauf nahmen?
Hier ging es um mich. Und um Cora. Wie hatte ich nur so blind sein können?
»Was habt ihr nur getan? Was habt ihr getan?«, flüsterte ich.
Ich sah Cora vor mir, wie sie in jener Nacht zu Jennys Wohnung am Fluss ging. Jenny hatte uns im Charlie’s zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen, daher kannte Cora die Adresse. Die Wohnung selbst war bestimmt nicht schwer zu finden gewesen. Sie hatte geglaubt, Mike würde dort sein, aber sie hatte ihn nicht vorgefunden und deshalb gewartet. Oder hatte sie die beiden zusammen gesehen, beobachtet, wie er hineinging und später wieder herauskam?
Sie brauchte Klarheit. Hatten Stevie und Mike nicht angedeutet, sie sei bereits in Wrexham misstrauisch gewesen und habe Mike eine Affäre unterstellt? Hatte sie recht gehabt damit oder war es nur ihre schlimmste Befürchtung gewesen? Was hatte sie bei der Aussicht empfunden, zurück nach Cardiff zu ziehen, zurück zu mir?
Was genau war nach dem Charlie’s passiert, in jener Nacht, in der Coras Befürchtungen in einen Sog aus Eifersucht und Bitterkeit geraten sein mussten, der seit zehn Jahren in ihr gärte?
War Cora Jenny zur Tankstelle gefolgt, als sie ihre Wohnung verlassen hatte, um Zigaretten zu kaufen? Hatte sie sie zur Rede gestellt? Hatte sie wissen wollen, ob Mike in der Wohnung war, ob sie ihren Ehemann vögelte? Um diese Zeit war Mike sicher längst bei Stevie gewesen, wo beide zu betrunken gewesen waren, um noch etwas anderes zu tun, als zu schlafen.
Irgendwo waren sie sich begegnet, Jenny und Cora. Höchstwahrscheinlich auf der Brücke, eben als Jenny Zigaretten kaufen gegangen war, wie Harriet gesagt hatte. Wenige hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt, stromaufwärts der Stelle, an der man ihre Leiche gefunden hatte. Sehr spät, lange nachdem das letzte Taxi in die Nacht verschwunden war. Niemand hatte die beiden gesehen.
Was Cora wohl zu ihr gesagt hatte? Hatte sie Jenny den Ohrring herausgerissen? Hatten schroffe Worte zu Schlägen geführt, zu zupackenden Fäusten? Hatte Jenny mit ihrem arroganten Blick und ihrer selbstgefälligen, nonchalanten Art in Cora nur die betrunkene, eifersüchtige Ehefrau gesehen? Cora hatte bestimmt geschrien, dass sie eine Schlampe sei, ein Luder, eine Nutte, eine nichtsnutzige Fotze. Jenny trug Mikes Lederjacke – für Cora Beweis genug.
Vielleicht war Cora aber auch ganz ruhig gewesen, so eiskalt und zielstrebig wie der schwarze Fluss, der im Schatten des Stadions dahinfloss, an nackten Bäumen und den wehrhaften Mauern der Burg entlang. So oder so hatte sie bei der kleinen, zierlichen Jenny, die den konsumierten Wein, ihre hohen Absätze und den Wind gegen sich hatte, nicht viel Kraft aufwenden müssen. Bestimmt hatte Cora den Entschluss erst in letzter Minute gefasst. Ein Schubs voller Wut, ein paar Sekunden Gerangel, eine plötzliche Eingebung? Oder völlige Gedankenlosigkeit? Das Bedürfnis zuzuschlagen, den Worten »Ich bin verletzt« Ausdruck zu verleihen?
Jenny hatte anfangs bestimmt gelacht, vielleicht sogar bis zu dem Moment, als ihr klar wurde, dass sie fallen würde, dass sie über das niedrige Brückengeländer ins spiegelnde, wartende Wasser stürzen würde. Wer hätte ihren Aufschrei gehört, bevor die Fluten in ihre Kehle strömten und ihn erstickten, bevor die Kälte nach ihren Kleidern griff und sie nach unten zog? Cora hätte um Hilfe rufen können, hätte den Notruf wählen können – aber sie hatte es nicht getan. Sie war nach Hause gegangen.
Natürlich musste es sich nicht so abgespielt haben. Mit Sicherheit wissen würde ich es nie, denn fragen konnte ich sie auf keinen Fall. Und Jenny hatte keine Stimme mehr. Ich hatte den Klang ihrer Stimme, der ich
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