Saat der Lüge
nur einen Abend lang dabei zugehört hatte, wie sie die Musik zu übertönen versuchte, längst vergessen. Ihr Mund öffnet sich, aber sie ist verstummt.
Mir fiel ein, in welcher Verfassung Cora am nächsten Morgen gewesen war, ich erinnerte mich dunkel daran, in den frühen Morgenstunden, als ich im Gästezimmer meinen Jack-Daniel’s-Rausch ausgeschlafen hatte, die Haustür gehört zu haben, das Geräusch eines Autos, das kein Taxi war. Cora hatte schon alle Zeitungsausschnitte gesammelt, bevor ich ihr überhaupt von Jenny erzählt hatte. Weil sie nämlich schon vor ihrem Verschwinden und der Identifizierung ihrer Leiche gewusst hatte, wer sie war. Und dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilte.
Als sie mich im Einkaufszentrum gefragt hatte, ob ich glaubte, dass einen Sünden aus dem vorherigen Leben bis ins nächste verfolgen, war diese Frage vielleicht ganz anders gemeint gewesen, als ich gedacht hatte. Sie hatte gar nicht wissen wollen, ob sie in einem früheren Leben großes Unrecht getan haben musste, um solche Qualen zu verdienen, und es war auch kein melodramatischer Versuch gewesen, Mikes Untreue zu verarbeiten. Aus jetziger Sicht verstand ich, dass sie in dem Moment, als sie diese Worte aussprach, schon geplant haben musste, sich umzubringen. Sie hatte bereits vorgehabt, sich von ihrer Schuld zu erlösen, aber nur, wenn sie sicher war, dafür nicht im nächsten Leben zu büßen. Und wie immer hatte sie von mir eine Antwort erhalten. Ich hatte dem Drang, ihr zu entgegnen, dass wir selbstverständlich alle für unsere Sünden bezahlten, widerstanden und gesagt: »Sei nicht albern, Cora – das ist doch Quatsch.«
Und ich hatte eine letzte große Geste der Freundschaft gemacht, hatte gezeigt, dass ich auf ihrer Seite war, indem ich versprochen hatte, mit ihr zur Polizei zu gehen, egal, welche Konsequenzen es haben würde. Ich hatte sie Mike vorgezogen. Ausnahmsweise einmal. Endlich einmal. Das war genug. Sie konnte loslassen.
In diesem Moment wusste ich, dass unser bisheriges Leben endgültig vorbei war.
Das Urteil
C ora bekam also ihren Willen. Wegen dem, was sie getan hatte, würde Mike von nun an für immer ihr gehören. Und er war nicht unglücklich darüber, das hatte ich in der Nacht im Krankenhaus in seinen Augen gelesen. Dieser Ausdruck, der beinahe an Bewunderung grenzte …
Letzten Endes lief es auch für mich ganz gut. Ich war mir sicher, dass Cora Mike die Wahrheit gesagt hatte, und jetzt, da er es wusste und dieses Wissen ihn an sie fesselte, brauchte sie niemandem mehr zu drohen. Sie schien sogar vergessen zu haben, dass sie mir je gedroht hatte. Sie fürchtete mich nicht mehr und wollte mir auch keine Angst mehr einjagen. Mike hatte seine Wahl getroffen. Also erwähnte sie nie wieder die Polizei oder den Currymann und das Schweigegeld. Und ich wurde in der ersten Woche des neuen Jahres befördert.
Was passierte mit dem Currymann? Auch bekannt als Mr Rhodri Lewis, Stadtstreicher ohne festen Wohnsitz? Er kam nie wieder, um eine zweite Zahlung zu verlangen.
Anfangs schlich ich weiterhin ängstlich aus der Redaktion, weil ich ständig erwartete, dass er mit seinen wässrigen Augen und seiner spöttisch aufgehaltenen Hand vor mir auftauchen würde. Wenn ich auf dem nasskalten, dunklen Parkplatz mit dem Autoschlüssel kämpfte, fuhr ich beim kleinsten Geräusch herum und sah schon seine schmierige Hand auf meiner Schulter liegen. Aber irgendwann hörte ich auf, die Straßen nach ihm abzusuchen, und glaubte nur noch hin und wieder, sein Gesicht unter den schmutzstarrenden Obdachlosen des Stadtzentrums auszumachen, bis ich ihn schließlich überhaupt nicht mehr sah.
Im März erfuhr ich bei Gericht den Grund für sein Schweigen. Dort hörte ich auch seinen richtigen Namen, der mir noch von seinen früheren Auftritten bei Gericht in Erinnerung war, auch wenn ich ihn damals nicht mit »dem Currymann« in Verbindung gebracht hatte.
Es stellte sich heraus, dass Rhodri Lewis kurz vor Weihnachten im Alter von einundfünfzig Jahren gestorben war. Er war Lehrer gewesen, bevor er nach dem Tod seiner betagten Mutter vor sieben Jahren auf der Straße gelandet war. Rhodri Lewis hatte eine ganze Flasche Wodka getrunken und eine Packung Schlaftabletten geschluckt. Die Nacht war kalt und nass gewesen, und es hatte noch alter Schnee gelegen. Die Pillen und der Alkohol versetzten ihn in einen dumpfen, unruhigen Schlaf, nachdem er sich hinter ein paar Mülltonnen am Ende von Coras Straße gelegt hatte und
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