Saat der Lüge
weggedämmert war.
Am nächsten Morgen fand ihn ein Mann, der seinen Corgi spazieren führte. Trotz seines neuen Anoraks war er eiskalt gewesen, und seine Hände waren um die leere Flasche herum festgefroren.
Zu meiner Überraschung tauchte seine Schwester bei der gerichtlichen Untersuchung der Todesursache auf. Offensichtlich war sein Tod die letzte einer Reihe von Blamagen, der sie sich durch ihren Bruder ausgesetzt sah. Sie war eine kühl wirkende, schwarz gekleidete Sekretärin in den Vierzigern, mit schmerzhaft hohen Absätzen und ordentlich hochgestecktem rotbraunem Haar, dessen Farbe an den Ansätzen bereits herauswuchs. Beim Sprechen umklammerte sie die ganze Zeit eine Tasche aus Lederimitat und hielt sie sich wie einen Schutzschild vor den Körper, als wollte sie damit den Eingriff in ihr Leben und die Demütigungen abwehren, die sein öffentlicher Tod ihr bescherten. Obwohl es eine naheliegende Schlussfolgerung war, verwehrte sie sich entschieden gegen jede Andeutung, ihr Bruder habe sich umgebracht. Warum hätte er sich dann vorher eine neue Jacke kaufen sollen? Woher sollte er das Geld dafür gehabt haben? Wie hätte er an die Schlaftabletten kommen sollen? Es war sicher eine Fehleinschätzung gewesen, eine tödliche Kombination von Faktoren in einer kalten Nacht.
Sie erbte alles, was er auf der Welt besaß, nämlich hundert Pfund in gebrauchten Scheinen, die man in seiner Hosentasche fand. Der Ursprung des Geldes blieb ein Rätsel. Der Gerichtsmediziner murmelte das übliche banale Zeug und gab »unbekannte Todesursache« zu Protokoll. Der Fall bot wenig Stoff für die Zeitung. Ein Absatz ganz unten auf Seite zehn vielleicht?
Die Polizei fand nie heraus, was genau mit Jennifer Morgan passiert war. Auch hier lautete der Richterspruch letztlich »Todesursache unbekannt«. Es ließ sich einfach nicht feststellen, ob ihr Tod ein Unfall, ein Missgeschick oder ein Verbrechen gewesen war.
Es stellte sich heraus, dass sie in der Nacht, in der sie verschwand, mit einem Arbeitskollegen im Charlie’s gewesen war, mit dem sie sich in unregelmäßigen Abständen getroffen hatte.
Wie vorherzusehen gewesen war, war Martin Parker, einunddreißig, verheiratet. (Der rätselhafte M., oder Mr M., war nie identifiziert worden, aber Martin Parker schien der wahrscheinlichste Kandidat zu sein.) Die beiden waren nach einem Streit im Charlie’s getrennter Wege gegangen, und als sie im Anschluss verschwunden war, war Parker davor zurückgeschreckt, sie als vermisst zu melden. Wie hätte er das seiner Frau erklären sollen? Nach Jennys Tod meldete er sich aus denselben banalen, offensichtlichen Gründen nicht bei der Polizei.
Auf der mit M. unterschriebenen Nachricht waren zwei verschiedene Sätze Fingerabdrücke gefunden worden, genau wie in ihrer Wohnung. Ein Satz blieb unbekannt, aber Parker war zu einem früheren Zeitpunkt wegen Exstasy- und Amphetaminbesitzes verhaftet worden, und deshalb waren seine Fingerabdrücke bei der Polizei gespeichert. Er und Jenny hatten sich im Charlie’s kurz nach ihrer Ankunft gestritten, weil er eifersüchtig auf einen anderen Mann gewesen sein soll. Daraufhin hatte sie ihm gesagt, er solle sich verpissen. Ein Foto von Martin Parker half dem Gedächtnis eines Kellners auf die Sprünge. Der erinnerte sich daran, dass der Streit in der Nähe der Garderobe stattgefunden hatte. Parker habe ihren Arm gepackt, und sie habe sich daraufhin losgerissen und ihm einen Drink über den Kopf gekippt.
Diesen Vorfall hatte die Polizei aus den Nachrichten herausgehalten.
Ich erinnere mich noch genau an sein Erscheinen vor Gericht. Er sah aus wie fünfunddreißig und hatte wellige braune Haare. Er hätte sympathisch, ja sogar gut aussehen können, hätte er nicht so angespannt gewirkt, wie er da auf der Anklagebank saß, eingeschnürt von seiner Krawatte. Der Verkäufer der Tankstelle in der Nähe des Stadions erinnerte sich, dass er in jener Nacht dort getankt und Zigaretten gekauft hatte und ihm dabei leicht angetrunken vorgekommen war.
Parker beharrte darauf, dass er und Jenny erst seit wenigen Monaten miteinander ausgegangen seien und nur dreimal miteinander Sex gehabt hätten. Sie sei besessen gewesen von einem anderen Mann. Nach der Auseinandersetzung sei er später in der Nacht zu ihrer Wohnung gefahren, um sich zu entschuldigen und ihr das Versprechen abzunehmen, es nicht seiner Frau und dem halben Büro zu erzählen, so, wie sie gedroht hatte.
Es habe aber kein Licht mehr gebrannt und auch
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