Saat der Lüge
Cardiff fand an diesem Nachmittag ein Rugby-International-Spiel statt, und deshalb wimmelte es in der Stadt schon den ganzen Tag von Fans. Und es würde noch schlimmer werden. An solchen Tagen wagte ich mich nur selten ins Zentrum, weil die Straßen verstopft waren mit lärmenden Männern, die sich patriotisch in Flaggen hüllten und hohe, vermeintlich lustige Hüte auf dem Kopf trugen. Ich hasse Rugby. Rugby gilt heutzutage als walisisches Kulturgut und füllt eine klaffende, gähnende Lücke, wo sich eigentlich Identität befinden sollte.
Immer wenn ich an dem aus dem grässlichen neuen Millennium Stadion dringenden Getöse vorbeikam, das wie ein schlecht geparktes Raumschiff kurz vor dem Abheben am Flussufer kauerte, überkam mich eine Mischung aus Ärger und Ekel. Wegen dieser Rugby-Idioten fand ich im Umkreis von drei Kilometern um die Redaktion keinen Parkplatz und watete ab sieben Uhr abends knietief in Erbrochenem.
Die erwarteten Menschenmassen waren auch der Grund dafür, dass wir unser Taxi lange im Voraus bestellten, selbst das für den Rückweg. Es war längst zum Glücksspiel avanciert, am Wochenende auf der St. Mary Street ein freies Taxi aufzutreiben. Dutzende neue Clubs und Bars zwängten sich zwischen die Fassaden der altmodischen Pubs und buhlten mit greller Beleuchtung und Happy-Hour-Angeboten um Aufmerksamkeit. Ab sieben Uhr abends standen die Leute auch entlang der abgesperrten Straßen in der Nähe der Stadionausgänge wankend im Rinnstein, rissen die Arme hoch und verfluchten die Fahrer privater Fahrzeuge, weil sie nicht bereit waren anzuhalten. Der Ausdruck »Komasaufen« wurde erst einige Jahre später erfunden – damals nannte man diese Leute noch schlicht betrunkene Arschlöcher.
Wir waren auf dem Weg ins Charlie’s, wo ich seit Studentenzeiten nicht mehr gewesen war. Es gab natürlich neuere, coolere Clubs, in die wir hätten gehen können, aber für uns hatte es immer nur das Charlie’s gegeben, und so kam niemand auf die Idee, eine andere Disco vorzuschlagen.
Als wir aus dem Taxi purzelten, konnten nicht einmal die Betrunkenen unsere gute Stimmung trüben. Auch nicht der Mann mittleren Alters auf dem Bürgersteig, der eine alte, abgewetzte Wachsjacke trug, eine Pappschachtel mit einem hart gewordenen Currygericht umklammerte und um Kleingeld bettelte.
Als wir ausstiegen, fiel der Blick des Mannes auf Cora. Vielleicht erregte sie seine Aufmerksamkeit, als sie in ihrer engen roten Bluse unbeholfen aus dem Taxi kletterte.
»Hätten Sie vielleicht ein bisschen Kleingeld übrig, Miss?«, erkundigte er sich unerwartet höflich. Aber für sie war er natürlich Luft, und seine Stimme verhallte zwischen ihnen, so dass sie sie nicht wahrnehmen musste.
Vermutlich war es diese Erkenntnis, die ihn plötzlich wütend machte und nach der Autotür grapschen ließ.
»Hast du mich nicht gehört, Schätzchen?«, hakte er nach und schob ihr sein Gesicht direkt vor die Nase. »Ob du Kleingeld hast, will ich wissen!«
»Hauen Sie doch ab!«, fuhr sie ihn an, aber Mike war innerhalb von Sekundenbruchteilen zur Stelle.
»Ziemlich kalt heute Abend, Kumpel«, sagte er betont heiter. »Hast du einen Platz zum Schlafen?«
Der Mann mit dem Curry schien so erschrocken darüber, dass man ihm eine Frage zur eigenen Person stellte, dass er gar nichts mehr sagte. Also fuhr Mike fort: »Hier hast du ’nen Fünfer, kauf dir was Warmes.« Er klopfte dem Mann auf die Schulter und schenkte ihm sein entwaffnendes Mike-Lächeln.
Der Currymann hielt den zerknitterten Geldschein einige Sekunden in der Hand, bevor er in völlig verändertem, beinahe verlegenem Tonfall sagte: »Vielen Dank, junger Mann. Sie sind ein echter Mensch.«
Cora packte Mike entschlossen beim Arm und zog ihn ins Foyer des Clubs, während der Currymann immer noch verwundert auf seine geschlossene Faust mit dem Geldschein starrte.
»Also echt, Michael! Musst du unser Geld wirklich an jeden dahergelaufenen Penner verschenken? Du kannst dich doch nicht dein ganzes Leben lang wie ein Trottel aufführen. Meine Güte!« Mike zuckte nur mit den Schultern und zwinkerte mir heimlich zu.
Das Zwinkern bedeutete: Sie versteht das nicht, aber wir verstehen es, weil wir das Gleiche denken. Eine kleine mitleidige Geste, ein kurzer Moment des Mitgefühls kostet doch nichts. Er lächelte hinter ihrem Rücken, und ich konnte nicht anders, ich musste zurücklächeln, und während er uns die Jacken abnahm und sie an der Garderobe abgab, breitete sich das
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