Saat der Lüge
einem glatten, perfekt geschnittenen Bob trug, im Schein der bunten Discolichter zu pulsieren schien. Sie trug einen schwarzen Lederrock, nicht zu kurz, aber genau richtig, um ihre langen, glatten Beine in den eleganten, wadenhohen Lederstiefeln noch länger wirken zu lassen. Ihre Absätze waren mindestens zehn Zentimeter hoch. Schon auf den ersten Blick war sie der Alptraum jeder liierten Frau.
Ich glaube, es waren die Stiefel, die zuerst Mikes und Stevies Blicke auf sich zogen, aber vielleicht blieben sie auch an der schwarzen Spitzenweste hängen, die sich eng um ihre vorwitzige Brust schmiegte. Sie bewegte die Hüften leicht zu den Bässen der Musik und ließ ein Julia-Roberts-Lächeln aufblitzen, so als freue sie sich aufrichtig, uns zu sehen.
Keiner wusste, wer sie war.
Sie kam mir bekannt vor, irgendwie. Ich hatte das Gefühl, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Sie hingegen kannte Cora und mich ganz eindeutig, denn sie umarmte uns so stürmisch wie alte Freundinnen und rief etwas, das wie »Lizzy, du siehst fantastisch aus«klang, über den unablässig aus den riesigen Boxen dröhnenden Lärm hinweg.
Und nachdem sie unsere Arme unter ihre eigenen geklemmt hatte, als wären wir ungezogene Kinder, konnte natürlich niemand mehr fragen: Entschuldigung, aber wer bist du eigentlich? Das ging einfach nicht.
Da stand sie also mitten unter uns, kannte meinen Namen und hatte ihren Arm um Coras Schulter gelegt. Sie grüßte Stevie mit einem Winken, rief »Ich bin Jenny« und zwängte sich ins Zentrum des Vierecks, das wir gebildet hatten. Und plötzlich konnten wir uns nicht mehr unverblümt nach ihrem vollen Namen erkundigen oder ihr die anderen Fragen stellen, die uns auf der Zunge brannten. Sie war ein unbeschriebenes Blatt, das wir erst in diesem Moment und allen, die noch folgen sollten, mit Inhalt füllten, in das wir unbewusst unsere auf sie gemünzten Erwartungen und Befürchtungen projizierten.
Weil uns nichts anderes einfiel, sagten wir hallo und machten Bemerkungen darüber, wie schrecklich voll es doch sei, in der Hoffnung, dass sie sich bald langweilte und zu ihren eigenen Freunden zurückkehrte, wo auch immer sie stecken mochten. Aber diesen Gefallen tat sie uns nicht.
Während weiter Banalitäten ausgetauscht wurden, musterte sie Mike und Stevie prüfend und anerkennend von Kopf bis Fuß und schenkte jedem der beiden ein strahlendes Lächeln. Wir fragten sie, ob sie das Charlie’s mochte und die Musik und ob sie öfter herkäme. »Um Himmels willen, so gut wie nie!«, antwortete sie und erzählte von einer total abgefahrenen kleinen Szenebar auf der Cannon Street, die viel mehr ihr Fall sei.
Diese Antwort hatte ich erwartet. Das vergeblich um Coolness bemühte Charlie’s war wohl der letzte Ort, der »ihr Fall« gewesen wäre. Es stieß mir zwar sauer auf, es zuzugeben, aber sie wirkte viel zu glamourös und rockstarmäßig für unseren alten Lieblingsclub. Auch wenn sich hier inzwischen einiges getan hatte, war das Charlie’s längst nicht hip genug für jemanden, der so voller Selbstvertrauen, so raffiniert, so ungeniert überschwänglich auftrat wie Jenny an diesem Abend.
Zu meiner grenzenlosen Überraschung behauptete Stevie, er kenne die Bar. Stevie, der Burberry-Hemden trug und am liebsten im Pub um die Ecke saß, weil »man sich dort wenigstens beim Denken zuhören kann«. Mit einer Ungezwungenheit, bei der einem ganz schlecht wurde, stürzten sich die beiden in eins dieser »Ist-die-Tanzfläche-nicht-winzig-und-sehen-die-Toiletten-nicht-aus-wie-in-einem-Raumschiff?«-Gespräche, die sofort jeden ausschließen, der noch nie dort gewesen ist.
Ich konnte ihm kaum einen Vorwurf machen. Er war Single, und sie vermittelte nun wirklich den Eindruck, sie sei zu haben. Trotzdem erfüllte mich sofort ein völlig irrationaler Ärger. Er hatte die Todsünde begangen, sie zum Bleiben einzuladen. Viel beunruhigender war jedoch, wie gierig Mike jedes Wort aufsaugte, das über ihre Hochglanzlippen kam. Er war so auf sie konzentriert, dass er überhaupt nicht zu bemerken schien, wie Cora ihm aus zusammengekniffenen Augen missbilligende Blicke zuwarf, diese kritischen Cora-Blicke, die sie so gut beherrschte, ein direktes Starren mit aufeinandergepressten Lippen. Die Band spielte so laut, dass schwer zu hören war, worum es in der Unterhaltung ging, und deshalb konnten Cora und ich auch keinen Beitrag dazu leisten. Aber Jenny schien überhaupt nicht aufzufallen, dass wir uns nicht beteiligten,
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