Sabihas Lied
konnte man nicht eitel nennen. Dafür hatte Sabiha keine Anzeichen gesehen, jedenfalls nicht in Bezug auf ihr ÃuÃeres. Ihre Mutter war zartfühlend, umsichtig und wahnsinnig stolz auf ihren Mann, aber eitel war sie nicht. Sabiha versuchte, sich ihre Mutter mit kurzen Haaren vorzustellen, doch es gelang ihr nicht. Houria war ganz anders als ihre Mutter. Sabihas Mutter war wirklich schön. Sie war traurig und schön und hatte geweint, als Sabiha in den Bus stieg, der vor dem Postamt abfuhr. Sabihas Vater hatte jedenfalls nicht das Abziehbild seiner Schwester geheiratet. Sabiha fand es lustig, dass Houria sich derart um ihr Aussehen sorgte. »Probier es doch einfach mal aus«, sagte sie. »Wenn es dir nicht gefällt, kannst du sie ja nachwachsen lassen.«
Houria tätschelte ihr Haar. »Meinst du wirklich, ich sollte es tun?« Im Grunde ihres Herzens wusste sie, dass sie sich damit in gewisser Weise von Dom trennen würde. Wollte sie sich etwa von ihm trennen? Das nicht, aber sie wollte sich von der gemeinsamen Vergangenheit trennen. Sie wollte eine verheiÃungsvolle Zukunft. Wollte zu neuen Ufern aufbrechen. Doms Tod nötigte sie, sich von den alten Zeiten mit ihm zu lösen, andernfalls würde sie von nun an nur noch in der Vergangenheit leben. Diese Erkenntnis traf sie ganz unerwartet, und sie wusste nicht recht, wie sie damit umgehen sollte. War das gut oder schlecht? Das konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber es war aufregend, und insgeheim bewunderte sie sich auch dafür. Das Ganze erforderte schlieÃlich Mut.
»Es wächst doch sowieso nach«, sagte Sabiha leichthin, während sie die Messer und Gabeln auf die rotkarierten Decken verteilte. »An deiner Stelle würde ich es tun.«
»Wirklich?« Houria hatte sich eine andere Reaktion erhofft, hätte sich von ihrer Nichte mehr Zuspruch gewünscht. Niedergeschlagen sagte sie: »Dom gefielen die langen Haare.«
Sabiha hielt wieder inne und sah ihre Tante am anderen Ende des kleinen Speiseraums an. Am liebsten hätte sie gesagt: »Hör zu, Dom ist tot. Klar? Also kannst du sie ruhig schneiden lassen. Was macht das schon für einen Unterschied?« Sie lächelte und sagte nichts. Sie hatte Dom ja nie kennengelernt. Und offensichtlich gab es da etwas, das sie nicht begreifen konnte. Menschen waren nun mal eigen. Sie liebte ihre Tante und wollte sie auf keinen Fall verletzen.
Houria zuckte mit den Schultern. »Ich weià einfach nicht, was ich tun soll!«
*
Nachdem Sabiha in Paris angekommen war, standen sie am ersten Abend im oberen Hinterzimmer, das Houria für sie hergerichtet hatte. Es war ein hübsches kleines Zimmer direkt unterm Dach, einladend und gemütlich. Darin standen ein Bett mit einer geblümten Tagesdecke und daneben ein Lehnstuhl. Unter der Dachschräge befand sich eine alte schwarze Truhe aus Doms Seefahrerzeiten, die sie als Schrank nutzen konnte. Auf dem breiten Fensterbrett stand eine Schale mit einer herrlich aromatischen Gewürzmischung, wie ein duftender Segen. Sabiha spürte, dass sie hier willkommen war. Houria bat sie, das Fehlen eines Spiegels zu entschuldigen.
»Ich besorge dir einen, mein Schatz, sobald ich die Zeit finde.« Dann fragte sie ihre Nichte, ob sie in Paris etwas Bestimmtes unternehmen wollte.
Sabiha sagte: »Ich habe schon daran gedacht, auf den Eiffelturm zu steigen und mir Paris von oben anzusehen. Die ganze Stadt zu meinen FüÃen.«
Houria beugte sich vor und streckte den Zeigefinger durch das Fenster über dem Bett. »Siehst du dieses rote Licht? Dort drüben im Norden?« Sabiha neigte sich ebenfalls vor, so dass ihre Köpfe sich berührten. »Das ist die Spitze des Eiffelturms.« So standen sie beide in das schmale Fenster gelehnt und sahen in den glitzernden Himmel, der sich über die GroÃstadt wölbte.
»Ist das schön!«, sagte Sabiha. Tatsächlich gibt es auf der ganzen Welt nichts Schöneres als die Dächer von Paris bei Nacht.
»Wir gehen zusammen hin«, versprach Houria. »Ich war noch nie da oben. Dom hatte für Besichtigungen nicht viel übrig.« Sie küsste Sabiha auf die Wange, richtete sich wieder auf und sagte: »Ich habe es mir anders überlegt. Ich werde nicht verkaufen und auch nicht nach El Djem zurückgehen. El Djem ist für mich keine Heimat mehr.« Tante und Nichte sahen sich an. »Ich weiÃ. Als ich deinem Vater
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