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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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Hourias Kinderlosigkeit weckte ihre Neugier, denn Sabiha war im Stillen davon überzeugt, dass sie selbst zur Mutter bestimmt war, und sie wusste, dass sie sich erst dann voll und ganz als Frau fühlen würde, wenn sie ihr eigenes Kind an die Brust drückte. Nicht von einem Mann träumte sie, sondern von einem Kind. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, ohne Kind so glücklich zu sein wie Houria. Sabihas geheimes Kind gab ihr Kraft, spendete ihr Wärme und Gesellschaft; tief in ihr geborgen, wartete es geduldig auf den Tag seiner Geburt. Sie war sich dessen sicher. Schon als kleines Mädchen hatte sie das Kind in sich getragen. Es war mit ihr eins , dieses geheime, verborgene Kind. Sie hatte niemandem davon erzählt, nicht einmal ihrer Schwester Zahira. Eines Tages würde sie ihr Kind bekommen, und an diesem Tag würde sie zur Frau werden.
    Â»Nein, mein Schatz. Dom und ich waren einander genug. Bevor wir uns kennenlernten, wanderte jeder von uns ziellos in der Welt herum. Und danach haben wir jeweils im anderen eine Heimat gefunden.« Sie strich Sabiha über die Haare, draußen in der Gasse bellte Andrés Hund eine Katze an, das Feuer zischte und prasselte. »Aber du wirst bestimmt Kinder bekommen«, fuhr Houria fort. »Und du wirst sie lieben. Und sie werden deine Liebe erwidern.« Sabiha schmiegte sich an sie und schloss die Augen. Sie liebte den Geruch ihrer Tante, ihre Berührung, ihre mütterliche Wärme. Houria roch ganz anders als ihre Mutter. Und Sabiha wollte keine Kinderschar, sondern ein einziges Kind. Ihr Kind. Es gab nur dieses eine. Das wusste sie, ohne zu wissen woher.
    Als Sabiha ihre Tante fragte, warum sie damals mit ihrer Mutter Tunesien verlassen hatte und nach Frankreich gegangen war, antwortete Houria: »Deine Großmutter brauchte medizinische Versorgung. Die gab es zu dieser Zeit nicht in Tunesien.« Sie hielt inne. »Das hat sie jedenfalls als Grund angegeben. Meine Mutter hatte ein schweres Leben. Sie war nicht so wie deine andere Großmutter. Meine Mutter war rastlos. Sie war immer auf der Suche nach etwas, das sie niemals fand. Sie war nie glücklich. Sie konnte das Glück nicht finden, das sie suchte. Es gibt solche Menschen. Mehr kann man dazu nicht sagen. Es ist kein großes Rätsel. Manche Menschen sind zufrieden und andere nicht.«
    Als Kind stand Sabiha ihrer Großmutter mütterlicherseits sehr nah, doch über ihre Großmutter väterlicherseits, Hourias Mutter, wurde in der Familie nie gesprochen. Wann immer es bisher »deine Großmutter« hieß, war stets ihre andere Großmutter gemeint gewesen. Sabiha hätte gern mehr erfahren, aber sie spürte, dass Houria lieber nicht über ihre Kindheit sprechen wollte, die sie allein mit ihrer ewig unzufriedenen Mutter in Paris verbracht hatte. Und so fragte sie ihre Tante stattdessen: »Glaubst du, dass ich unzufrieden bin?«
    Houria lachte. »Du? Nein, mein Schatz. Du könntest nicht zufriedener sein. Du kommst mit dem Leben zurecht. Da bist du wie ich.«
    Sosehr Sabiha ihre Tante liebte, wusste sie insgeheim, dass sie anders war als Houria. Sie befürchtete, dass Unzufriedenheit ihr keineswegs fremd war. Wie sollte man solche Gefühle auch abwehren, wenn sie sich bemerkbar machten?
    *
    Sabiha sprach nie davon, nach El Djem zurückzukehren. Jede Woche schrieb sie ihrer Mutter einen Brief, berichtete ihr bis ins Kleinste alle Neuigkeiten und versicherte ihr, dass sie glücklich war und gesund und bald nach Hause fahren wollte, um Ferien zu machen. Sabihas Vater hatte ganz sicher begriffen, dass sie niemals zurückkommen würde. Vielleicht nicht einmal in den Ferien. Wo sollte sie dafür die Zeit hernehmen? Ihr Leben ging ohne ihre Eltern weiter. Nach einem knappen Jahr in Paris war sie schon nicht mehr diejenige, die sie daheim in El Djem gewesen war. Sie wusste, dass ihr Vater das akzeptierte. Ihn musste man nicht beruhigen. Er verlangte von ihr keine Erklärung. Er wusste, dass Menschen manchmal weggehen und nicht zurückkommen. So hatte er es bei seiner Mutter erlebt. Und nun entfernte sich Sabiha so rasend schnell von ihrer Vergangenheit, dass sie sich manchmal kaum an ihr früheres Leben erinnern konnte. Sie hatte gar keine Zeit, darüber nachzudenken. Inzwischen ging sie allein auf den Markt, um die Gewürze zu kaufen, die Houria benötigte. Sie wurde von ihr in die Geheimnisse des richtigen Mischens eingeweiht

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