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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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hervor, setzte sie auf und fing an zu lesen.
    Houria und Sabiha sahen sich an.
    Houria sagte: »Geh und frag ihn, was er möchte.«
    Sabiha rückte ein Blech voller Plätzchen beiseite. Das Blech war so heiß, dass sie schleunigst die Hand wegzog und an ihrem Finger lutschte. Auf einmal fehlten ihr die Worte.
    Â»Geh schon!«, ermunterte Houria sie mit einem Grinsen.
    Sabiha spähte wieder durch den Vorhang. »Wir haben doch geschlossen«, sagte sie. »Der geht gleich wieder.«
    Â»Chez Dom hat noch nie einen hungrigen Reisenden abgewiesen«, verkündete Houria, als wäre das ein ehernes Prinzip, das seit der Gründung durch ihren geliebten Dom Pakos zur Tradition des Cafés gehörte. »Geh jetzt!« Sie stupste Sabiha mit dem Ellbogen an. »Er wird dich schon nicht beißen.«
    Sabiha warf ihr einen Blick zu, dann raffte sie den Vorhang beiseite und trat in den Speiseraum. Da sie Sandalen trug, hörte der Mann gar nicht, wie sie über die Holzdielen auf ihn zuschritt. So blieb sie hinter seiner rechten Schulter stehen und wartete darauf, dass er von seinem Buch aufsah. Draußen peitschte der Regen über die Straße, die inzwischen vollkommen verwaist war. Die Eingangstür musste dringend geschlossen werden. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
    Bei dieser Handbewegung drehte sich der Mann um und blickte zu ihr auf. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich habe Sie nicht gesehen.« Sein Französisch war fehlerfrei, aber es hörte sich an, als wären die Wörter so unterschiedlich geformt, dass sie ihm nur nach und nach über die Lippen gingen. Zunächst hatte sie gar nicht begriffen, dass der Fremde tatsächlich Französisch sprach.
    Seine grauen Augen erinnerten sie an die Augen von Tolstoi, Andrés Barsoi. Dieser Mann hatte in weite Ferne geblickt und schon allerlei gesehen, dachte Sabiha. »Wir haben geschlossen«, sagte sie. »Wir schließen um zwei.« Sie sprach langsam, damit er ihr folgen konnte. Sie stellte sich vor, er wäre von einer ganz langen Reise zurückgekehrt und erkennte sie und das Café nicht mehr, weil in seiner Erinnerung nur ein schwaches Echo seines früheren Lebens widerhallte. Über dieses Bild musste sie lächeln.
    Â»Die Tür war offen«, sagte er.
    Â»Ich öffne sie nur, um zu lüften, wenn die Männer weg sind.«
    Â»Darf ich hier wenigstens warten, bis der Regen nachlässt?« Er sah ihr unverwandt in die Augen.
    Â»Möchten Sie in der Zwischenzeit etwas essen?«
    Â»Danke«, sagte er. »Eigentlich wollte ich nach Chartres. Aber ich habe den falschen Zug genommen. Bei den Schlachthöfen bin ich ausgestiegen und hierhergelaufen.« Er lachte und hielt sein Buch hoch. »Und dann habe ich gelesen.«
    Â»Wollten Sie Chartres besichtigen oder werden Sie dort wohnen?«, fragte sie.
    Â»Henry Adams«, sagte er und hielt ihr den Buchumschlag unter die Augen. »Man hat mir gesagt, ich soll es lesen, bevor ich hinfahre.«
    Sabiha schwieg.
    Â»Ich sehe mal nach, was wir Ihnen anbieten können«, sagte sie schließlich.
    Â»Danke.«
    Erst ging Sabiha zur Tür und machte sie zu. Als sie auf dem Weg zur Küche den Speiseraum durchquerte, spürte sie den Blick des Fremden, als teilte er ihre Fantasievorstellung und versuchte, sich daran zu erinnern, wo sie sich einst begegnet waren, bevor er sich auf Reisen begab.
    Houria lachte und füllte eine Schale mit dem Rest Harira . Dann stellte sie die Schale und zwei von den frischgebackenen honiggetränkten Briouats auf ein Tablett. »Hier, bring das deinem Freund.«
    Worauf Sabiha entgegnete: »Lass den Unsinn! Er ist nicht mein Freund.«
    *
    Am folgenden Tag kam der Fremde mittags zur Stoßzeit ins Café. Sabiha hatte so viel zu tun, dass sie ihn erst sah, als sie den Tisch unter dem Fenster erreichte.
    Er hob den Kopf und lächelte sie an. »Hi. Da bin ich wieder.«
    Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Haben Sie wieder den falschen Zug genommen?«
    Â»Diesmal war es der richtige«, antwortete er. »Was meinen Sie? War das eine gute Idee?«
    Â»Das kann ich nicht sagen.« Doch sie konnte es sehr wohl. »Fahren Sie noch nach Chartres?«
    Beide sahen sich an. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie beugte sich vor und strich die Tischdecke glatt. »Ich kann Ihnen das Gleiche anbieten wie gestern. Oder

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