Sabihas Lied
und lernte noch vieles andere mehr. Sie liebte ihr neues Leben bei der Pariser Tante. Es war so aufregend, dass gar kein Heimweh aufkommen konnte. Sie war jetzt eine junge Frau, die allein Métro fuhr, die mit unzähligen anderen Menschen durch die StraÃen von Paris schlenderte. Houria lieà ihr alle Freiheiten und sorgte dafür, dass sie immer genug Geld dabeihatte. Das war jetzt ihr Leben. Ein richtiges Leben. Nicht dieses ewige Warten, das sie von zu Hause kannte.
Nachts lag sie in ihrem Bett unter der Dachschräge, betrachtete das Licht, das in der Ferne am Himmel blinkte, und sprach sich immer wieder diesen erstaunlichen Satz vor: »Ich bin eine junge Frau, die in Paris bei ihrer Tante lebt.« Das war eine Tatsache. Eine magische Tatsache. Es gab Hunderte, nein, Tausende von Dingen, die sie unternehmen wollte, sobald sie genug Freizeit hätte. Sie wollte unbedingt alle berühmten Sehenswürdigkeiten von Paris besichtigen und sich keine einzige entgehen lassen. Sie wollte alles kennenlernen.
Natürlich gab es auch Momente, in denen sie gern abends mit ihrem Vater unter dem Granatapfelbaum im Hof gesessen und ihm erzählt hätte, was sie alles gesehen hatte, ihm gern die unausgesprochenen Ãngste anvertraut hätte, die sie bisweilen verspürte. Ihm schrieb sie nie, sondern teilte ihm und Zahira über die regelmäÃigen Briefe an ihre Mutter mit, wie es ihr erging. Sie war ihrem Vater zu stark verbunden, um ihm zu schreiben. Und er schrieb ihr auch nicht. Denn sonst würden sie sich gegenseitig Dinge schreiben, die sie nicht mit ihrer Mutter und Schwester teilen konnten. Sie und ihr Vater wussten das Entscheidende. Das genügte ihnen beiden. Dieses Wissen. Eines Tages würden sie mehr erfahren wollen. Und dann würden sie fragen. Und dann würden sie sich gegenseitig die Antwort geben.
E s war ein verregneter Sommernachmittag, anderthalb Jahre nachdem Sabiha bei ihrer Tante eingezogen war. Im Café war es still, der Speiseraum war leer. Die Männer hatten ihre Mittagspause eine Stunde zuvor beendet und waren wieder bei der Arbeit. Die Eingangstür stand offen, ein paar Regentropfen fielen dunkel auf die Dielen, die Tür knarrte im Wind. Houria und Sabiha waren in der Küche, sie backten, hörten Radio und sangen dazu. Auf einmal legte sich der Wind, und der Regen wurde heftiger. Auf der StraÃe duckten sich die Passanten und legten einen Schritt zu, ein junges Paar lachte, sie und er rückten zusammen, als sie am Caféfenster vorbeiliefen.
Houria hörte auf zu singen und sagte über die Schulter hinweg: »Da ist jemand reingekommen.«
Sabiha warf einen Blick durch den Perlenvorhang. Ein Fremder saà unter dem Fenster rechts von der Tür an jenem Tisch, an dem sie und Houria in ihrer Mittagspause zu es sen pflegten. Das Fenster ging direkt auf die Rue des Escla ves. Allem Anschein nach hatte der Fremde schon vor ein paar Minuten Platz genommen. Vor ihm lag ein aufgeschlage nes Buch auf dem Tisch, doch obwohl er es mit beiden Händen umfasste, las er nicht. Er blickte durchs Fenster auf den Schauer, auf die schutzsuchenden Passanten, von denen manche einen Regenschirm aufspannten und andere sich den Mantel über den Kopf zogen. Die nasse Jacke hatte er auf der Lehne des Stuhls gegenüber von ihm abgelegt. Sie bestand aus einem dunkelbraunen Wollstoff mit hellbraunen Lederflicken am Ellbogen. Sabiha fiel auf, dass sich die Flickennähte am rechten Ãrmel lösten. Das war das Erste, was sie bewusst an ihm wahrgenommen hatte, und sie würde sich immer daran erinnern. Er schien zu erwarten, dass sich jemand zu ihm setzte. Der Fremde hatte helle Haare und keinen Schnurrbart, er trug Jeans und ein weiÃes Hemd mit offenem Kragen. Die FüÃe, die er unter dem Stuhl gekreuzt hatte, steckten in braunen Halbstiefeln mit seitlichen Gummieinsätzen.
Nun betrachteten beide Frauen den Mann. Seine nassen Haare hingen über dem Hemdkragen. Er war hochgewachsen. Ende zwanzig. Saà mit gerundeten Schultern über den Tisch gebeugt. Dann wandte er sich von der StraÃe ab, lehnte sich zurück und straffte die Schultern, während er den Blick durch den leeren Speiseraum schweifen, über den Perlenvorhang gleiten lieÃ, mit einem Ausdruck von Ernst, Selbstgenügsamkeit und Zuversicht, als fühlte er sich an diesem unbekannten Ort durchaus wohl. Er griff über den Tisch in seine Jackentasche und zog eine Brille
Weitere Kostenlose Bücher