Sabihas Lied
Fischbällchen.« Sabiha hielt seinem Blick nicht stand. Während er seine Bestellung aufgab, schaute sie über seinen Kopf hinweg auf die StraÃe. Gegenüber rauchte der alte Arnoul Fort vor dem Eingang seines Textilgeschäfts eine Zigarette. Als sich ihre Blicke kreuzten, winkte er ihr zu. Sie hob die Hand zum GruÃ.
»Ich hätte gern die Fischbällchen, bitte«, sagte der Mann.
Sie wandte sich zum Gehen, um seine Bestellung weiterzugeben.
Er rief ihr nach: »Und könnte ich auch ein bisschen Wein bekommen?«
Sie drehte sich um.
»Bitte«, sagte er.
»Rot oder wei� Wir schenken jeweils einen halben oder ganzen Liter aus.« Sie zeigte auf den braunen Tonkrug vom Nachbartisch. Die zwei Arbeiter am Tisch folgten ihrem Blick. Beide betrachteten sie den Krug.
»Einen halben Liter, danke. Rot.«
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sämtliche Männer im Speiseraum sie und den Fremden beobachteten.
*
Sie waren im kleinen Wohnzimmer unter der Treppe. Houria bügelte Kittel, Schürzen und Tischdecken. Sabiha schaute fern. Es war eine Woche her, dass sie den Fremden gesehen hatten. Aus heiterem Himmel sagte Sabiha: »Ob er wohl jemals wiederkommen wird?«
»Das frage ich mich auch«, erwiderte Houria.
Die Sängerin auf dem Bildschirm sang mit geschlossenen Augen ins Mikrofon. Sabiha schaute ihr zu. Sie hätte das Thema damit auf sich beruhen lassen können. Es war ja nicht so, dass sie den Fremden wiedersehen wollte, sagte sich Sabiha, sie konnte ihn sich bloà nicht aus dem Kopf schlagen. Wenn sie morgens aufwachte, blieb sie liegen und dachte an ihn. Dabei ging es nicht um romantische Flausen, sie dachte einfach nur an ihn, ohne Grund und Sinn, sehr zu ihrem Ãrger. Sah ihn vor sich, wie er am Tisch unter dem Fenster saà und las. Sie wünschte, sie könnte ihn vergessen. »Beim ersten Mal wollte er sich nur vor dem Regen in Sicherheit bringen«, sagte sie laut.
Houria drehte die Schürze um und fuhr mit dem Bügeleisen über die Biesen. »Und beim zweiten Mal wollte er dich wiedersehen.«
Sabiha schnaufte verächtlich und setzte sich aufrecht hin. Sie sah zu ihrer Tante hoch. »Wir zwei haben es doch gut. Was brauchen wir mehr?«
Houria sagte: »Tja, wir zwei«, und bügelte weiter. »Nur wir zwei, sicher, mein Schatz, uns fehlt nichts.«
Sabiha starrte auf den Bildschirm. Sie wünschte, sie hätte das eben nicht gesagt. Es lag schlieÃlich auf der Hand. Aber sie konnte es einfach nicht sein lassen. »Warum kommt er denn nicht mehr, wenn er mich wirklich wiedersehen wollte?« Das war keine Frage. Es war ein Versuch, ihn ein für alle Mal abzuschütteln.
Houria faltete die Schürze, legte sie auf den Stapel mit der gebügelten Wäsche und sah ihre Nichte an.
Sabiha sprang von der Couch. Sie ging in die Küche und setzte den Kessel auf. Dann füllte sie Minzblätter und braunen Würfelzucker in zwei Gläser und wartete darauf, dass das Wasser kochte. In der offenen Hintertür stand Tolstoi und beobachtete sie. Ein graues Geisterwesen im fahlen Licht des Hintergässchens. Sie ging hin, um ihm den Kopf zu tätscheln und eine gute Nacht zu wünschen. Danach machte sie die Tür zu. Sie war wütend. Was für eine Dummheit. Warum konnte sie nicht einfach so glücklich und zufrieden sein wie früher, bevor der Fremde das Café betreten hatte? Es war wirklich zu dumm. Die ganze Angelegenheit. Es war doch nur ein Mann, einer von vielen, die sich jeden Tag auf den StraÃen tummeln. Was war an ihm denn so besonders? Sie sah zu, wie allmählich kleine Dampfwirbel aus der Tülle quollen. Der Kessel war alt. So verbeult und innig vertraut wie früher der Kessel ihrer Mutter. Er war ein Fremder, ein Ausländer. Er konnte kaum Französisch. Und er war nur auf der Durchreise. Sie hasste ihn für das Durcheinander, das er verursacht hatte. Der hölzerne Griff am Henkel war schon vor Jahren geborsten und wurde seitdem von säuberlich gewickeltem, inzwischen blankpoliertem Draht zusammengehalten. Sie strich mit den Fingern darüber und spürte die feine Riffelung unter den Kuppen. Das war Doms Werk. War der Fremde am zweiten Tag wirklich nur ihretwegen wiedergekommen? Langsam goss sie das Wasser in die Gläser, atmete den Duft der frischen Minze ein.
Sabiha sehnte sich ebenso sehr danach, den Fremden zu vergessen, wie ihn wiederzusehen. Die Tage
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