Sabihas Lied
im Café kamen ihr ohne ihn leer vor. Als würde nun etwas fehlen, während vor seinem Auftauchen alles stets so gewesen war, wie es sein sollte. Während sie die Gäste bediente, merkte sie, wie sie nach ihm Ausschau hielt, in der Hoffnung, ihn aus der Bahnhofsrichtung die StraÃe entlangkommen zu sehen. Wie öde und gleichförmig die Tage verliefen, wenn sie nicht durch seinen Besuch belebt wurden. Nun war sie jeden Nachmittag mürrisch und verstimmt, wenn sie und Houria gegen 14 Uhr ihr eigenes Mittagessen einnahmen. Es war einfach nicht fair. Und es hatte keinen Sinn, mit Houria darüber zu sprechen. Sie und Dom hatten ja schon vom Tag ihrer ersten Begegnung an beschlossen, ein Leben lang zusammenzubleiben. AuÃerdem ging es ihr gar nicht darum. Sie wusste nicht, worum es ihr ging. Sie wollte es nicht wissen. Sie hätte nur gern erlebt, wie er das Café betrat und sie mit seinen schönen ruhigen grauen Augen anlächelte, als wäre zwischen ihnen beiden alles geklärt.
Sie stellte die Gläser mit dem bernsteinfarbenen Tee auf Untertassen und legte jeweils ein Sesamplätzchen dazu, dann trug sie beide Gläser ins Wohnzimmer. Dort vermischte sich die Wärme des Gaskamins mit dem Geruch von Hourias Bügelwäsche. Der Fernseher lief noch. Sie liebte dieses Zuhause, das sie mit ihrer Tante teilte. Sie liebte es so sehr, dass ihr bei dem Gedanken Tränen kamen. Sie wollte keine Veränderung. War sie vielleicht wie Hourias Mutter, Sabihas andere GroÃmutter, ein unzufriedener Mensch? Hatte sie womöglich diese Eigenschaft von ihr geerbt? Eine erschreckende Vorstellung. Konnte sie überhaupt selbst entscheiden, in welche Richtung sich ihre Persönlichkeit entwickelte? Oder musste sie die Persönlichkeit annehmen, die das Schicksal ihr bestimmt hatte?
Houria wandte sich vom Bügelbrett ab und lächelte, als sie die Tränen in den Augen ihrer Nichte sah. »Keine Sorge. Er kommt wieder.«
Sabiha stellte die Gläser auf den Couchtisch. »Bloà nicht. Hoffentlich lässt er sich nie wieder blicken.« Sie ging zu Houria, fiel ihr um den Hals und brach in Tränen aus. »Ich weià gar nicht, was mit mir los ist!«
Houria drückte sie an sich und strich ihr über den Kopf. »Wein dich nur aus, mein Schatz. Danach geht es dir besser.«
A n einem Samstagmorgen standen Houria und Sabiha an der Arbeitsplatte in der Küche und bereiteten das Abendessen vor â ein neuer Einfall, mit dem Houria ihr Angebot erweitern wollte; die Männer sollten sich am Samstagabend entspannen, nachdem sie unter der Woche ihr Mittagessen hastig hinunterschlingen mussten. Das Lamm war noch vor Sonnenaufgang in den Ofen gewandert, so dass die Küche von köstlichem Bratenduft erfüllt war. Houria nahm sich die Hühner vor, Sabiha hackte die Möhren, neben ihr auf dem Herd köchelte im groÃen Topf die Brühe, das schmale Fenster zum Hintergässchen beschlug, der gute alte Tolstoi hob die Schnauze und jaulte in Erinnerung an die Steppe seiner Ursprünge, vielleicht wollte er auch nur eine läufige Hündin am anderen Ende der StraÃe beeindrucken.
Houria hielt inne, um ihre Nichte beim Möhrenhacken zu betrachten, und stellte wieder einmal fest, wie schön Sabiha aussah und wie tief die liebevolle Freundschaft reichte, die zwischen ihnen entstanden war. Was für eine Bereicherung für ihr eigenes Leben, dass ihr Bruder so groÃzügig auf seine Lieblingstochter verzichtet hatte! Sie stopfte weiter warme würzige Füllung in den Hühnerbauch. Die Veränderung hatte in ihren gemeinsamen glücklichen Alltag Einzug gehalten wie ein Wechsel der Jahreszeit, mitsamt jenem Moment, wo man sich umdreht, leise die Tür schlieÃt und sich ein wenig in sich selbst zurückzieht. Sie hatte dabei zugesehen, wie Sabiha sich verliebte, und es dennoch nicht begriffen. Nun erlebte sie, wie ihre Nichte mit dem Fernbleiben des Fremden haderte, wie sie sich bemühte, ihn zu vergessen und wieder froh zu sein. Sie spürte, wie Sabiha sich verzweifelt gegen den Verdacht wehrte, dass dieser Mann sie absichtlich hinters Licht geführt oder auf unerfindliche Art verraten hatte. Diese vollkommen unerklärlichen Gefühle verstörten ihre Nichte und trübten ihre Lebensfreude. Sabiha litt Qualen, weil sie wider besseres Wissen etwas Bestimmtes glauben wollte. Bevor sie Dom kennenlernte, hatte Houria selbst erfahren,
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