Sabihas Lied
war entzückt darüber, dass er so furchtbar nervös schien.
»Na dann. Kann man wohl nichts machen. Ist schon gut. Es tut mir leid. Ein andermal vielleicht. Ich hätte besser nicht fragen sollen.«
Sie wusste, gleich wäre er weg, und wusste nicht, wie sie ihn zurückhalten sollte. Warum konnte sie sich nicht groÃzügig zeigen und zu ihm sagen: »Ich bin froh, dass Sie wieder hier sind«? Ein weiteres Mal würde er bestimmt nicht zurückkommen. Sie schätzte, dass er etwa zehn Jahre älter war als sie. Ein tunesischer Mann dieses Alters wäre schon verheiratet. Sie fragte sich, warum er es nicht war.
Er warf ihr einen hilflosen Blick zu. »Beim letzten Mal bin ich nur über Nacht in Paris geblieben. Ich wollte nach Chartres und am nächsten Morgen nach London zurück.«
»Aber Sie haben den falschen Zug genommen. Ich weiÃ. Sie haben es mir erzählt.«
»Ja. Das stimmt.« Er sah sie unverwandt an. »Und darüber bin ich froh.« In seinen grauen Augen glomm ein wenig Trotz auf, als wollte er sich keineswegs geschlagen geben.
»Bleiben Sie diesmal länger?«, fragte sie.
»Kommt darauf an.« Er zeigte zur Tür. »Ich habe mich für zwei Nächte in der Pension drüben am Platz einquartiert. Madame du Bartas.« Er lachte. »Sie sagt, sie kennt Sie und Ihre Tante.«
»Haben Sie sich etwa nach uns erkundigt?«
»Ja. War das falsch? Dann tut es mir leid. Sie hat mich gefragt, warum ich hier bin. Machte einen netten Eindruck. Ihre Pension ist sauber. Und auch nicht teuer.«
»Nichts ist teuer in Vaugirard«, sagte sie. Also war er wirklich ihretwegen zurückgekommen. »Was hat Madame du Bartas Ihnen über uns erzählt?«
Der Perlenvorhang rasselte. Sie drehten sich beide um. Houria kam auf sie zu und wischte sich dabei die Hände an ihrer Schürze ab. »Guten Morgen, Monsieur«, sagte sie. »Wie schön, Sie wieder im Chez Dom begrüÃen zu dürfen. Samstags bieten wir keinen Mittagstisch an, aber Sie können gern Kaffee und Gebäck bekommen.« Sie gab ihm die Hand. »Ich bin Houria Pakos. Und das ist meine Nichte Sabiha.«
Der Fremde erwiderte Hourias Gruà und schüttelte ihr die Hand. Sabiha gab ihm nicht die Hand.
»Ich bin John Patterner«, stellte er sich vor.
»Machen Sie hier Urlaub, Monsieur Patterner? Zu uns verirren sich nur selten Touristen. Die Schlachthöfe schrecken sie ab.« Houria lachte. »In dieser Ecke von Paris gibt es kaum etwas, das Besucher anlockt. Sie wollen das andere Paris.« Sie musterte ihn von Kopf bis FuÃ. »Und wo kommen Sie eigentlich her, Monsieur?«
»Australien«, antwortete John Patterner. »Ich bin Australier.«
»Und aus welcher Gegend stammen Sie? Als mein Mann noch bei der Handelsmarine war, ist er viele Male nach Australien gefahren.«
»Ursprünglich komme ich aus Neusüdwales, aber inzwischen lebe ich in Melbourne«, erklärte er.
»Dom war mal im Dandenong-Gebirge. Kennen Sie es?«
John Patterner lachte. »Na sicher! Aber die Dandenongs kann man nicht wirklich Berge nennen. Es sind eher Hügel.«
»Sie kennen es also?«
»Klar. Jeder in Melbourne kennt die Dandenongs.« Während er sich mit Houria unterhielt, warf er Sabiha immer wieder Blicke zu.
Houria sah ihn mit leuchtenden Augen an. »Aha«, sprach sie bedächtig, stemmte sich die Hände in die Hüften und trat einen Schritt zurück, um John Patterner besser in Augenschein zu nehmen. »Sie kennen die Dandenongs und mein Dom kannte die Dandenongs.« Sie lächelte, als sie »die Dandenongs« sagte, als wäre das ein bedeutungsvoller Code, mit dem sie und dieser Fremde von der anderen Seite der Erdkugel zu einer tieferen Verständigung gelangten. Einer erwachsenen Form von Verständigung. »Und was machen Sie beruflich, Monsieur Patterner, wenn Sie in Melbourne sind?«
»Ich unterrichte an der Highschool. Aber ich bin auf einer Farm groà geworden.« Wieder warf er Sabiha einen Blick zu. »Ich kann so ziemlich jedes Handwerk. Zum Beispiel schreinern. Ich habe alles Mögliche gemacht. Eigentlich gibt es nichts, was ich nicht ausprobiert habe.«
»Das konnte mein Dom auch, seine Hände waren so geschickt. Und jetzt haben Sie wohl Schulferien?«
»Ich habe unbezahlten Urlaub genommen, um nach Schottland zu reisen. Zunächst habe ich ein paar Monate in
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