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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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wie die Zeit zum unerbittlichen Feind wird, die unerträglich langsam dahinziehenden Stunden, die Hoffnung, die jeden Tag wieder aufkommt und jeden Tag wieder stirbt, die Unfähigkeit, dem Ganzen mit Vernunft zu begegnen. Denn was gibt es im Leben Herrlicheres – fragte sich Houria, während sie die noch warme Füllung in das kalte ausgeweidete Huhn stieß –, als einen Partner zu finden? Sie wusste, dass Dom ihr von seinem neuen Leben im Jenseits aus beipflichtete.
    Als die sechs Hühner ofenfertig auf der Arbeitsplatte aufgereiht waren, hoffte Houria, dass sie sich nicht verkalkuliert hatte. Was, wenn am Abend niemand käme? Nicht alle Mittagstischstammgäste konnten sich ein solches Essen leisten, und es hatten sicher auch nicht alle Lust zu kommen. Der Samstagabend war riskant. Alles war riskant. Sie nahm das erste Huhn und rammte den Stahlspieß hindurch. Sabiha tat ihr leid, und sie betete, dass der Fremde ihretwegen zurückkommen würde, auch wenn sie im Grunde ihres Herzens befürchtete, dass sie ihn vermutlich nie wiedersehen würden. Sie hatte den Eindruck gewonnen, dass es sich um einen ehrlichen Mann handelte, besonnen, ohne maßlosen Ehrgeiz, um jemanden, der einen zuverlässigen Ehemann und Vater abgeben würde. Mit anderen Worten ein Mann, dem zu seinem Lebensglück nur noch eine gute Ehefrau und Kinder fehlten. Er schien auch kräftig und gesund zu sein und sah nicht übertrieben gut aus. Ein Mann, der so robust und eher unscheinbar war, würde sicher treu sein. Dom war ihr immer treu gewesen. Dieser Treue gedachte sie voller Liebe. Und das würde sie bis ans Ende ihrer Tage tun. Diese Treue hatte er ihr geschenkt. Er hatte ihr damit gehuldigt. Sie wischte sich über die Augen, packte das nächste Huhn, steckte es auf den langen Stahlspieß und seufzte: »Aii! Aii! Aii!«
    Sabiha hob den Kopf. »Was ist los, Tantchen?«
    Houria antwortete: »Mein wunderbarer Dom hat mich eben heimgesucht.«
    Eine Stunde später sah sie von ihrem Teig auf und erblickte den Fremden, der durch die vordere Eingangstür in den leeren Speiseraum trat. Als er die Tür geöffnet hatte, war Sonnenlicht auf die Dielen gefallen, deswegen hatte sie aufgemerkt, seine Gestalt warf einen langen Schatten. Sie war kein bisschen überrascht. Da ist er also! Manche Dinge stehen nun mal geschrieben. Sie beobachtete, wie er behutsam die Tür hinter sich zumachte, als hätte er Angst, das ganze Haus aufzuwecken. Ein kleiner kakigrüner Rucksack hing ihm von der Schulter. Der Lederflicken an seinem Jackenärmel war nicht wieder angenäht worden. Das hieß, dass sich noch keine Frau um ihn kümmerte!
    Houria drehte sich zu Sabiha und berührte ihren Arm.
    Sabiha sah sie an, ohne das große Gemüsemesser aus der Hand zu legen.
    Ihre Tante hob das Kinn. »Sieh mal, wer da ist.«
    Er stand am Tresen, ohne sich umzusehen, aber abwartend, als wüsste er, dass man ihn beobachtete.
    Sabiha sah hin und schwieg.
    Houria sagte leise: »Warum gehst du nicht und erklärst ihm, dass wir geschlossen haben, mein Schatz?«
    Sabiha betrachtete ihn durch den Perlenvorhang. Wenn sie nicht sofort zu ihm ginge, würde er auf Nimmerwiedersehen verschwinden, davon war sie überzeugt.
    Â»Soll ich die Schürze ausziehen?«
    Â»Geh und sprich mit ihm. So wie du bist.«
    Sabiha schritt durch den Vorhang und trat auf den Fremden zu.
    Er drehte sich um.
    Â»Guten Morgen.«
    Â»Guten Morgen«, erwiderte sie.
    Â»Ich musste nach London zurück, um meine Sachen zu holen«, sagte er.
    So schüchtern-ernsthaft und verlegen wie ein kleiner Junge kam er ihr vor. Am liebsten hätte sie ihn ausgelacht. Jetzt war er derjenige, der sich schutzlos ausgeliefert fühlte.
    Â»Ich wollte unverzüglich wieder herfahren, aber dann ist mir etwas dazwischengekommen. Ich hätte Ihnen sagen sollen, dass ich für eine Weile unterwegs bin.«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Das alles geht mich nichts an.«
    Er senkte den Blick, sah sie wieder an. »Hätten Sie vielleicht Lust, den Tag in Chartres zu verbringen? Ich bin immer noch nicht hingefahren. Wir könnten heute hin und wieder zurück. Es wäre nur ein kleiner Ausflug.« Er runzelte die Stirn. »Sie müssen ja nicht mit. Ich wollte es Ihnen nur anbieten. Für den Fall, dass es Sie reizt. Ist nur ein Angebot.«
    Â»Wir haben heute so viel zu tun«, sagte Sabiha. Sie

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