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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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London verbracht. Und bevor ich in den Norden fahre, wollte ich mir schnell noch Chartres ansehen.«
    Â»Werden Sie nach Melbourne zurückkehren und wieder unterrichten, wenn Ihr Urlaub vorbei ist?«
    Er blickte Sabiha an. »So habe ich es mehr oder weniger geplant, Madame Pakos.« Er wandte sich wieder Houria zu. »Vorhin habe ich Ihre Nichte gefragt, ob sie Lust hätte, mich heute nach Chartres zu begleiten. Wenn Sie aber beide so viel zu tun haben, passt es an einem anderen Tag vielleicht besser.«
    Â»Ich werde Adrienne bitten, mir zur Hand zu gehen, sie ist die Tochter unseres Vermieters und hockt sowieso den ganzen Tag nur vor dem Fernseher. André freut sich bestimmt, wenn er sie ein paar Stunden los ist«, sagte Houria, bevor sie sich an Sabiha wandte: »Wie wär’s mit Kaffee?« Sie tätschelte Sabihas Arm und lächelte John Patterner an. »Passen Sie gut auf meine Nichte auf, Monsieur Patterner. Sie ist mein Ein und Alles. Ich erwarte sie vor Einbruch der Dunkelheit zurück.«

D as Sommergras fühlte sich frisch an unter Sabihas bloßen Füßen. Von Lichtflecken besprenkelt, saß sie unter einer Trauerweide. Der riesige alte Baum ragte weit über den Fluss, sein Blätterdach warf flirrende Schatten auf das funkelnde Wasser, dessen Lauf zu stocken schien. Enten schwammen vorbei und sahen sich neugierig um. John Patterner lag hinter Sabiha auf dem Rücken, die großen Hände unter dem Kopf verschränkt. Er blickte sie mit halb geschlossenen Augen an, während sie die leuchtend grünen Gräser betrachtete, die im Wasser trieben, und sich ausmalte, sie wären die Schwanzspitzen exotischer Fische. Sie brach ein weiteres Stück vom Baguetterest ab und zerbröselte das weiche Brot zwischen ihren Handflächen. Die Krümmel warf sie schwungvoll ins glitzernde Wasser. Das Entenpaar paddelte gemeinsam mit seinen fünf Küken darauf zu. Mit angezogenen Knien beobachtete Sabiha, wie die Enten ihre milde Gabe verzehrten. Vom Fluss kam kühle, im Schatten der Weide fast schneidende Luft auf, als trüge das Wasser die Nacht bereits in sich. Sabiha umschlang ihre Knie noch fester.
    Hinter ihr erklang leise die Stimme von John Patterner. »Ich liebe dich.«
    Sie drehte sich zu ihm. »Hör damit auf. Wie soll man jemanden lieben, den man kaum einen Tag kennt?«
    Â»Ich habe dich schon immer gekannt.«
    Ãœber diesen Satz musste sie lächeln, denn darin steckte für sie beide eine ganz eigene Wahrheit. Schon immer, tatsächlich. Ihre Zugfahrt war unendlich lange her. Die beiden, die am Morgen im Abteil noch wie Fremde nebeneinandersaßen, hatten nichts mit den beiden zu tun, die nun am Flussufer unter den Weiden lagen. Bevor sie die Kathedrale betraten, hatte er sie zurückgehalten und die feierlichen Worte gesprochen: »Durch dieses Tor führt der Weg zum ewigen Leben.« Da Sabiha ihn noch kaum kannte, fragte sie: »Sind Sie religiös?« John erzählte ihr, dass seine Mutter zwar eine katholische Erziehung genossen hatte, Religion für sie aber keine Rolle mehr spielte, seit sie mit seinem Vater zusammen war. »Und du?«, fragte er. Stolz erzählte sie ihm vom politisch-sozialen Engagement ihres Vaters, der ein überzeugter Atheist war. »Ich habe noch nie eine Moschee von innen gesehen.«
    Â»Du strahlst in diesem Licht«, sagte er.
    Sie hob den Kopf, schob sich mit beiden Händen die Haare aus der Stirn, dann schloss sie die Augen und zitierte in ihrer Muttersprache: »Mein ist die Farbe von Wüstensand bei Sonnenuntergang.«
    Er war von ihr beeindruckt, entzückt vom geheimnisvollen Klang ihrer Sprache. »Wie schön sich das anhört«, sagte er. »Was bedeutet es?«
    Sie übersetzte es ihm. »Aber diese Wörter haben im Arabischen eine Bedeutung, die sie im Französischen nicht besitzen. Auf Französisch bedeuten sie etwas anderes. Bedeuten sie nicht so viel.« Diese Wörter hatte sie von ihrer Großmutter gelernt, der Mutter ihrer Mutter. Es war die erste Zeile eines uralten Liedes. Seine Bewunderung brannte ihr wie Sonnenlicht auf der Haut, und sie hätte ihm das Lied gern vorgesungen, aber sie traute sich nicht.
    Â»Ich werde immer nur dich lieben«, sagte er ernst.
    Sie lachte ihn aus. »Wie kannst du dir da so sicher sein? Eines Tages lernst du vielleicht eine wunderschöne Frau kennen, die dir den Kopf verdrehen

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