Sabihas Lied
Es gab einen hohen Kreischton, dann fuhr der Lieferwagen ruckartig an. Der Zigarettenrauch vermischte sich mit dem Duft des warmen Gebäcks auf der Ladefläche. Er warf der wartenden Sabiha einen letzten flüchtigen Blick zu, die Hand zum Gruà erhoben. Schon war er weg.
S abiha schloss die Hintertür, den Geruch der Auspuffgase noch in der Nase. Völlig durchgefroren stellte sie sich mit dem Rücken vor den Ofen, der noch warm vom Backen war, und lauschte dem Knattern des alten Motors, als der Lieferwagen aus der Gasse fuhr. Mit einem Mal verstummte das Geräusch, nachdem John in die Rue des Esclaves abgebogen war. Sie hatte einen Augenblick für sich allein. In der Küche war es ruhig, bis auf das Klappern einer losen Fensterscheibe gegen den Holzrahmen. Mit geschlossenen Augen genoss Sabiha die Wärme. Houria sang im Badezimmer. Mit ihrer klangvollen samtigen Altstimme sang sie ein französisches Lied. Nie sang Houria ein Lied aus ihrer alten Heimat. Ihr waren diese Lieder bei weitem nicht so vertraut wie ihrer Nichte. Sie hatte sie sich nicht zu eigen gemacht und ihre Mutter hatte ihr die Lieder nicht beigebracht, diese geheimnisvolle, unzufriedene Frau, Sabihas andere GroÃmutter. Houria sang für Dom. Für sich und ihn. Zur Feier ihres gemeinsamen Pariser Lebens. Zwischendurch summte sie auch nur eine Melodie vor sich hin.
Sabiha spülte gerade einen Stapel Backbleche und eine Reihe von Rührgeräten, als Houria die Küche betrat und Kaffee aufsetzte. Ihre stachligen grauen Haare waren noch feucht und standen in alle Richtungen ab, ihre vollen Wangen glühten, ihre schönen dunklen Augen strahlten vor Wohlbefinden. Sie waren beide schon vor Stunden auf den Beinen gewesen, um die Kekse und Törtchen zu backen, die John mit seinem kleinen Dreirad-Lieferwagen ausfuhr, den er im vergangenen Winter gekauft hatte, als eine Menge Kunden wegen der Kälte ausblieben und der Backwarenumsatz dramatisch gesunken war. Er erholte sich schnell, nachdem sie den Lieferwagen angeschafft hatten und die Kunden sich das Gebäck frei Haus kommen lassen konnten.
Sabiha hob nicht einmal den Kopf, als ihre Tante hereinkam, stumm schrubbte sie die verhärteten Teigreste von den Blechen, als verlangte diese Aufgabe ihre volle Kraft und Konzentration, dabei rieb sie Ecken blank, die seit Jahren vom Ofen geschwärzt waren. Houria trocknete ein paar Bleche ab, dann schenkte sie ihnen beiden Kaffee ein. »Komm, trink erst mal deinen Kaffee. Das andere kann warten.« Sie trug die Schalen in den Speiseraum.
Sabiha richtete sich auf, blieb vor der Spüle stehen, ohne die Hände aus dem Wasser zu nehmen, als wollte sie sich Houria lieber nicht anschlieÃen. Dann griff sie nach einem Küchentuch, wischte sich die Hände ab und trat ebenfalls durch den Perlenvorhang. John hatte den groÃen Gaskamin eine Stunde zuvor angemacht, so dass es im kleinen Speiseraum schön gemütlich war. Sie setzten sich an ihren Stammtisch, Graupel prasselte gegen das Fenster, die Schneekristalle schmolzen, während sie am Glas entlangglitten. Frühaufsteher eilten geduckt durch die schmale StraÃe.
Sabiha führte die dampfende Kaffeeschale mit beiden Händen zum Mund, ohne die Ellbogen vom Tisch zu heben. Als sie die FuÃgänger drauÃen sah, bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil John in diesem scheuÃlichen Wetter unterwegs war und sich bemühte, ihre Kunden bei Laune zu halten, obwohl er zu dieser Arbeit nicht die geringste Lust hatte. Es tat ihr leid, dass sie ihn in der Nacht so wütend angeherrscht hatte. Sie sehnte sich nach Nähe und Verbundenheit. Als sie Hourias Blick spürte, wandte Sabiha den Blick vom Fenster. »Wir haben uns die halbe Nacht gestritten, über das leidige alte Thema«, beantwortete sie Hourias stumme Frage. »Es ist nicht weiter interessant.« Sie trank einen Schluck Kaffee.
Damals in Chartres hatte sie voller Staunen und Schrecken Johns Hand gehalten und ihn gefragt: »Was werden wir tun?« Sie hatte solche Schwierigkeiten vorausgesehen. Sie hätte nicht so schnell einlenken dürfen. Sie hätte darauf bestehen müssen, dass sie eine klare Entscheidung treffen, anstatt auf John und Houria zu hören, die ihr beide versicherten, es würde sich mit der Zeit alles finden. John musste damals schon gewusst haben, dass er sich nicht für immer in Frankreich niederlassen wollte. Bestimmt hatte er das gewusst! Dennoch
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