Sabihas Lied
Aufregung nicht einschlafen, weil sie wusste, dass ihr Körper seinen Samen freudig aufgenommen hatte, weil sie sich ausmalte, wie in ihrem Schoà ein neues Leben keimte. Sie hatte ein ureigenes Bild von diesen Vorgängen. In dieser Nacht hatte sie sich als Mädchen zu John gelegt und war am nächsten Tag als Frau aufgestanden. Am Morgen hatte sie im Stillen darüber gejubelt, keine Jungfrau mehr zu sein. Die erste â und schlimmste â Enttäuschung, die Sabiha in ihrem Pariser Leben widerfuhr, war zwei Wochen später die Entdeckung, dass sie keineswegs schwanger war. Nichts war passiert. Nichts hatte sich geändert. Sie weinte eine ganze Woche lang und war untröstlich. Die Keimzelle ihres Kindes lag immer noch unberührt in ihr, fern und stumm. John war nicht zu ihr durchgedrungen. Ihre Liebe hatte dafür nicht ausgereicht. Etwas fehlte. Etwas Lebendiges und Reales, das ihnen aber verborgen blieb. Es brachte sie fast um den Verstand, wenn sie darüber nachdachte.
Von klein an hatte Sabiha Weiblichkeit mit Mutterschaft gleichgesetzt. Eine Frau zu sein hieÃ, Mutter zu sein. Davon kam sie nicht los. Das wollte sie auch gar nicht. Woran sollte sie sich sonst halten? Sie war zutiefst davon überzeugt. Darauf hatte sie ihr ganzes Sein gegründet. Ihr Selbstwertgefühl hing davon ab, der Sinn ihres Lebens. Ohne diese Ãberzeugung wäre für sie nichts mehr von Bedeutung. Solange sie nicht Mutter wurde, kam sie als Frau nicht voran. Verharrte im Wartezustand, bis das wirkliche Leben begann. Die vergangenen zwei Jahre hatten ihr mehr zugesetzt, als John oder Houria verstehen konnten. Dieses Wissen machte sie einsam. Ihre Einsamkeit teilte sie still mit dem Kind, das noch der Empfängnis harrte, dem treuen Gefährten ihres verschwiegenen Innenlebens.
S abiha war ihrer GroÃmutter noch enger verbunden gewesen als ihrer Mutter. Und so hegte sie nicht den geringsten Zweifel, als die sterbende GroÃmutter ihr zuflüsterte: »Ich werde immer bei dir sein.« Diese letzten Worte bedeuteten Sabiha sehr viel. In ihnen steckte ein Versprechen, das für sie heilig war, das Versprechen, dass ihre GroÃmutter ihr bei Bedarf die Kraft verleihen würde, wirklich schwierige Situationen zu meistern. Sabiha war nie allein, sie hatte stets das Gefühl, von ihrer GroÃmutter und ihrer ungeborenen Tochter umgeben zu sein. Sobald sie das Baby bekommen hatte, wollte sie es ihrem geliebten Vater in die Arme legen.
Nie würde sie sich mit einem Leben ohne ihr Kind abfinden, im Gegensatz zu Houria. Ihre alte Eintracht war dahin. Sie liebte ihre Tante nach wie vor, mehr, als sie in Worte hätte fassen können, aber ihr Verhältnis hatte sich verändert. Ihr Leben war nicht mehr so einfach wie früher, als Sabiha noch nicht mit John verheiratet war.
Mit ihrem Vater und ihrer kleinen Tochter unter dem Granatapfelbaum im Hof zu sitzen, sie alle drei beisammen â das war der schöne Traum, der Sabiha auf Schritt und Tritt begleitete. Das war ihr ganzer Trost. Sie war sich sicher, dass ihr Traum eines Tages Wirklichkeit werden würde. Ohne diesen Trost wäre ihr das Leben unerträglich geworden. Ihr den Traum zu nehmen hieÃe, ihr alles zu nehmen. John ahnte nicht, wie grausam seine Forderung war, dass sie mit ihm nach Australien gehen sollte, denn dafür müsste sie ihren Traum aufgeben. Es fiel ihr schwer, ihm das begreiflich zu machen. Sie hatte es schon öfter versucht, aber dann hörte sich ihr Wunsch so kleinlich und kindisch an im Vergleich zu den Tatsachen, die ihr Leben bestimmten.
Sabiha bemerkte, dass Wind und Regen nachgelassen hatten und die Passanten nicht mehr allzu getrieben wirkten. Inzwischen brannte auch Licht im Untergeschoss von Arnoul Forts Haus. Wahrscheinlich war er in der Küche und bereitete das Frühstück für seine Frau zu.
»Liebst du ihn noch?«, fragte Houria.
Sabiha schreckte aus ihrem Tagtraum auf und verstand nicht gleich, wen Houria meinte. »Meinen Vater?«
»Um Himmels willen, John !«
»Natürlich liebe ich ihn noch. Das weiÃt du doch. Was soll die Frage?«
»John ist ein guter Mann. Er hat alles darangesetzt, dich glücklich zu machen. Er betet dich an. Einen solchen Mann findest du nie wieder.« Houria hatte offenbar keine Lust mehr, das Gespräch fortzusetzen. Sie stand auf und nahm die leeren Kaffeeschalen vom Tisch. »Ich mach mich mal an die Arbeit«, sagte
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